Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
Vom Netzwerk:
zeigen, wo ihr Sohn begraben worden war. Der Bataillonskommissar nickte schweigend und notierte.
    Sie wollte mit Doktor Maisel sprechen.
    Der Kommissar sagte, dass Doktor Maisel, der von ihrer Ankunft erfahren hatte, selbst mit ihr reden wollte.
    Sie bat um eine Zusammenkunft mit Schwester Terentjewa.
    Der Kommissar nickte und machte sich eine Notiz.
    Sie bat um die Erlaubnis, die Kleider ihres Sohnes zur Erinnerung zu bekommen.
    Wieder machte der Kommissar eine Notiz.
    Dann bat sie darum, den Verwundeten die Gastgeschenke zu überreichen, die sie ihrem Sohn mitgebracht hatte, und legte zwei Dosen Sprotten und eine Tüte Bonbons auf den Tisch.
    Ihr Blick begegnete dem des Kommissars; der Glanz ihrer großen blauen Augen ließ ihn unwillkürlich blinzeln.
    Schimanski bat Ljudmila, am folgenden Tag um neun Uhr dreißig ins Lazarett zu kommen; alle ihre Bitten würden erfüllt werden.
    Der Bataillonskommissar schaute auf die Tür, die sich hinter der Schaposchnikowa schloss, und auf die Geschenke, die sie für die Verwundeten dagelassen hatte, fühlte seinen Puls, fand ihn nicht, zuckte mit den Achseln und begann das Wasser zu trinken, das er Ljudmila zu Beginn des Gesprächs angeboten hatte.
    31
    Es schien, als fände Ljudmila Nikolajewna keine ruhige Minute. In der Nacht ging sie durch die Straßen, saß auf einer Bank im Stadtpark, ging in den Bahnhof, um sich aufzuwärmen, und wanderte wieder mit schnellem, geschäftigem Schritt durch die leeren Straßen.
    Schimanski erfüllte jede ihrer Bitten.
    Um neun Uhr dreißig vormittags traf sich Ljudmila Nikolajewna mit der Krankenschwester Terentjewa. Sie bat sie, ihr alles zu erzählen, was sie über Tolja wusste.
    Gemeinsam mit Schwester Terentjewa stieg Ljudmila Nikolajewna, nachdem sie einen weißen Kittel angezogen hatte, in den ersten Stock hinauf, ging durch den Korridor, durch den man ihren Sohn in den Operationssaal getragen hatte, stand an der Tür eines Einbett-Krankenabteils und blickte auf das schmale Bett, das an diesem Morgen leer war. Schwester Terentjewa ging die ganze Zeit neben ihr her und putzte sich mit einem Taschentuch die Nase. Sie stiegen wieder ins Erdgeschoss hinab, und Schwester Terentjewa verabschiedete sich von ihr. Bald darauf trat schwer atmend ein grauhaariger, beleibter Mann in den Aufnahmeraum. Der gestärkte, blendend weiße Kittel des Chirurgen Maisel wirkte noch weißer im Vergleich zu seinem sonnenverbrannten Gesicht und seinen dunklen, leicht vorstehenden Augen.
    Maisel erzählte Ljudmila Nikolajewna, weshalb Professor Rodionow gegen die Operation gewesen war. Er schien alle Fragen zu erraten, die Ljudmila Nikolajewna ihm stellen wollte. Er erzählte ihr von seinen Gesprächen mit Leutnant Tolja vor der Operation. Er begriff, in welcher Verfassung sich Ljudmila befand, und berichtete mit schonungsloser Offenheit über den Verlauf der Operation.
    Dann sagte er, dass er für Leutnant Tolja beinahe so etwas wie väterliche Zuneigung verspürt habe, und die tiefe Stimme des Chirurgen bekam eine leise Brüchigkeit. Zum ersten Mal betrachtete sie seine Hände; sie waren eigentümlich, führten ein Eigenleben, als hätten sie nichts zu tun mit dem Mann und seinen traurigen Augen – es waren raue, schwere Hände mit großen, kräftigen, sonnengebräunten Fingern.
    Maisel verbarg die Hände unter dem Tisch. Als läse er ihre Gedanken, meinte er:
    »Ich habe mein Möglichstes getan, aber schließlich haben meine Hände seinen Tod nur beschleunigt, anstatt ihn abzuwehren.« Er legte seine Hände wieder auf den Tisch.
    Sie verstand, dass alles, was Maisel sagte, die Wahrheit war. Jedes seiner Worte, die sie voller Ungeduld erwartete, quälte und brannte. Doch das Gespräch war noch aus anderen Gründen quälend für sie: Sie spürte, dass der Chirurg die Begegnung mit ihr nicht um ihretwillen, sondern um seinetwillen gewollt hatte. Und deshalb hegte sie Maisel gegenüber leisen Groll.
    Als sie sich von ihm verabschiedete, sagte sie, sie glaube ihm, dass er sein Möglichstes für die Rettung ihres Sohnes getan habe. Er atmete schwer, und sie spürte, dass ihm ihre Worte Erleichterung verschafften; und wiederum erkannte sie, dass er das Recht zu besitzen glaubte, diese Worte von ihr zu hören, und daher diese Begegnung mit ihr gewollt hatte. Vorwurfsvoll dachte sie: »Will er etwa von mir auch noch getröstet werden?«
    Der Chirurg verließ sie, und Ljudmila ging zu einem Mann mit einerPapacha 18 auf dem Kopf: dem Kommandanten. Er salutierte vor

Weitere Kostenlose Bücher