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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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der Schnee knirschte unter den Schuhen und Filzstiefeln. Sein einsames Auge weit aufsperrend, glotzte der Wachtturm in die Nacht.
    Aber die Sirenen, nah und fern, heulten immer noch – das vereinigte Orchester des Nordens. Es ertönte über der gefrorenen Krasnojarsker Erde, über der autonomen Republik Komi, über Magadan, über Sowjetskaja Gawan, über den Schneefeldern des Kolymaer Gebiets, über der Tundra Tschukotkas, über den Lagern des Nordens von Murmansk und des nördlichen Kasachstan.
    Unter den Stimmen der Sirenen, unter den Schlägen der Metallstange auf ein an einem Ast schwingendes Schienenstück schritten die Ausbeuter des Kaliums von Solikamsk, des Kupfers aus Ridder und vom Balchaschsee, des Kolymaer Nickels und Bleis, der Kusnezker und Sachaliner Kohle, schritten die Erbauer der Eisenbahnlinie entlang der Küste des Eismeers und der Kolymaer Trassen, schritten die Holzfäller Sibiriens und des nördlichen Urals, des Murmansker und Archangelsker Gebiets …
    Im nächtlichen Schnee begann zu dieser Stunde der Tag in den Lagern und Außenstellen des riesigen Lagerkomplexes Dalstroi in der Taiga.
    40
    In der Nacht überkam den Häftling Abartschuk ein Anfall von Verzweiflung. Es war nicht die gewohnte dumpfe Depression des Lagerlebens, sondern jene Verzweiflung, die wie Malaria den Menschen innerlich verbrennt, die ihn zwingt, Schreie auszustoßen, von der Pritsche aufzuspringen und sich mit den Fäusten gegen die Schläfen und auf den Kopf zu hämmern.
    Am Morgen, als die Häftlinge hastig und widerwillig zugleich zur Arbeit antraten, fragte ihn sein Pritschennachbar, der langbeinige Neumolimow, ehemals Vorarbeiter im Gaswerk und im Bürgerkrieg Kommandeur einer Kavalleriebrigade: »Warum hast du dich heute Nacht so wild hin- und hergeworfen? Hast du von einer Frau geträumt? Gewiehert hast du.«
    »Du denkst nur an Weiber«, erwiderte Abartschuk.
    »Mir war so, als hättest du im Schlaf geweint«, sagte Abartschuks anderer Pritschennachbar, der einfältige Monidse, vormals Mitglied des Präsidiums der Kommunistischen Jugendinternationale. »Ich wollte dich schon wecken.«
    Der ehemalige Professor der Medizin und jetzige Sanitäter Abrascha Rubin hatte nichts bemerkt. »Weißt du«, sagte er, als sie in die eisige Finsternis hinaustraten, »ich habe von Nikolai Iwanowitsch Bucharin geträumt. Er besuchte uns im Institut der Roten Professoren, gut gelaunt, voll Energie; wir hatten eine großartige Diskussion über die Henchman-Theorie.«
    Abartschuk hatte einen Posten im Werkzeuglager. Während er sich an die Arbeit machte, heizte sein Gehilfe Barchatow, ein Raubmörder, der eine sechsköpfige Familie umgebracht hatte, mit Zedernholzabfällen aus dem Sägewerk den Ofen. Abartschuk packte Werkzeuge um, die in Kisten lagen. Die schneidende Kälte des Stahls von Feilen und Meißeln erinnerte ihn an die Qualen der vergangenen Nacht.
    Der neue Tag unterschied sich durch nichts von den vorangegangenen. Seit dem frühen Morgen gingen von der Buchhaltung die genehmigten Bedarfsmeldungen der Außenstellen ein. Abartschuks Aufgabe bestand darin, das angeforderte Material herauszusuchen, es in Kisten zu verpacken und die Begleitpapiere zusammenzustellen. Für einige Werkzeuge, die nicht in Sätzen geliefert wurden, mussten Sonderverzeichnisse angefertigt werden.
    Wie immer rührte Barchatow keinen Finger, und es war unmöglich, ihn zum Arbeiten zu bringen. Sobald er im Magazin erschien, interessierte er sich ausschließlich für sein leibliches Wohl. Schon seit dem frühen Morgen war er damit beschäftigt, sich in einem Henkeltopf eine Suppe aus Kartoffeln und Kohl zu kochen. Er wurde dabei nur kurz vom Lateinlehrer des Charkower Pharmazeutischen Instituts unterbrochen, dem Laufburschen des ersten Reviers, der mit zitternden roten Fingern eine Handvoll schmutziger Graupen auf den Tisch schüttete – Bestechungsgeld, das Barchatow von ihm aus irgendeinem Grunde kassierte.
    Später am Tag wurde Abartschuk in die Finanzabteilung gerufen. Mehrere Posten der Abrechnung stimmten nicht überein. Der Abteilungsleiter schrie ihn an, er werde Meldung beim Lagerkommandanten machen. Abartschuk wurde übel bei dieser Drohung. Ohne Hilfe war seine Arbeit nicht zu schaffen. Aber er wagte nicht, sich über Barchatow zu beschweren. Er war müde und lebte in ständiger Angst, wieder in eine Kohlengrube oder zum Holzfällen geschickt zu werden. Abartschuk war vorzeitig ergraut, seine Kräfte waren verbraucht … Vielleicht lag

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