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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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ohne Scham, weinen. So würden sie lange stehen, der Sohn den Vater um einen Kopf überragend …
    Es würde sich herausstellen, dass der Sohn immer an den Vater gedacht hatte. Dass er Kameraden des Vaters ausfindig gemacht und von ihnen erfahren hatte, welche Rolle er in der Revolution gespielt hatte. Tolja würde sagen: »Mein Gott, Vater, dein Haar ist ja ganz weiß geworden, und dein Hals ist mager und faltig. Und all die Jahre hast du gekämpft, hast einen großen, einsamen Kampf geführt.«
    In der Untersuchungshaft hatte man ihm drei Tage stark gesalzene Nahrung gegeben, ohne Wasser; man hatte ihn geschlagen.
    Er hatte verstanden, dass man ihn beileibe nicht zwingen wollte, seine Unterschrift unter Aussagen über Sabotage und Spionage zu setzen oder Unschuldige zu belasten. Nein, man wollte ihn dazu bringen, an der Gerechtigkeit der Sache, der er sein Leben geweiht hatte, zu zweifeln. Während der ganzen Dauer der gerichtlichen Untersuchung war er überzeugt gewesen, Banditen in die Hände gefallen zu sein, und er war sicher, wenn es ihm gelänge, mit dem Chef der Staatssicherheit persönlich zu sprechen, würde man diesen Banditen von einem Untersuchungsrichter auf der Stelle festnehmen.
    Aber die Zeit verging, und er hatte erkennen müssen, dass es sich keineswegs um eine Handvoll Sadisten handelte.
    Er hatte die Gesetze der Massendeportation entdeckt, die in Güterzügen und Schiffsladeräumen herrschten. Er hatte gesehen, wie gemeine Verbrecher nicht nur das Eigentum, sondern selbst das Leben anderer beim Kartenspiel verspielten. Er hatte erbärmliche Laster, Verrat gesehen und mit der blutigen, unvorstellbar grausamen, rachsüchtigen und abergläubischen Unterwelt Bekanntschaft gemacht; er hatte die mörderischen Kämpfe zwischen den»Nutten«, 20 arbeitswilligen Gelegenheitsgaunern, und den Dieben, professionellen Verbrechern, erlebt, die sich weigerten zu arbeiten.
    Er hatte sich gesagt, niemand wird ohne Grund eingesperrt, und war überzeugt gewesen, dass nur wenige, darunter er selbst, irrtümlich im Gefängnis saßen, während alle Übrigen Feinde der Revolution waren, die das Schwert der Justiz getroffen hatte.
    Er hatte Anbiederei, Verrat, Unterwürfigkeit, Grausamkeit gesehen … Er nannte diese Charaktereigenschaften »Muttermale des Kapitalismus«, wie man sie bei den »Gestrigen«, den Offizieren der Weißen, bei Kulaken und bürgerlichen Nationalisten fand. Sein Glaube war unerschütterlich, seine Ergebenheit gegenüber der Partei grenzenlos.
    Neumolimow schickte sich an, das Werkzeuglager zu verlassen, da fiel ihm plötzlich ein:
    »Oh, fast hätte ich es vergessen – jemand hat nach dir gefragt.«
    »Hier? Wer denn?«
    »Einer von denen, die mit dem gestrigen Transport angekommen sind. Man hat sie auf die verschiedenen Arbeitskommandos verteilt. Er hat sich nach dir erkundigt. ›Zufällig kenne ich Abartschuk‹, habe ich ihm gesagt, ›wir schlafen nämlich schon das vierte Jahr Seite an Seite.‹ Er hat mir seinen Namen genannt, er ist mir leider entfallen.«
    »Wie sieht er aus?«, wollte Abartschuk wissen.
    »Mickrig, weißt du, mit einer Narbe an der Schläfe …«
    »Nein!«, rief Abartschuk. »Doch nicht etwa Magar?«
    »Ja, genau – so heißt er.«
    »Aber das ist ja mein ältester Freund, mein Lehrer! Er hat mich in die Partei eingeführt. Was hat er dich gefragt? Was hat er erzählt?«
    »Die üblichen Fragen – wie viele Jahre du bekommen hast. Ich hab ihm gesagt: ›Er hat um fünf gebeten und zehn bekommen, jetzt hat er angefangen zu husten, da wird man ihn wohl vorzeitig entlassen.«
    »Magar, Magar«, wiederholte Abartschuk. Er schien Neumolimow nicht mehr zuzuhören. »Er war eine Zeitlang bei der Tscheka. Ein ungewöhnlicher Mensch, weißt du, ein ganz ungewöhnlicher. Bereit, für einen Genossen alles herzugeben. Sich im Winter für ihn den Mantel auszuziehen, ihm sein letztes Stück Brot zu geben. Und dazu klug, gebildet. Von reinstem proletarischem Blut – der Sohn eines Fischers aus Kertsch.«
    Er blickte um sich und neigte dann seinen Kopf näher zu Neumolimow hinüber.
    »Erinnerst du dich, wir haben davon gesprochen, dass die Kommunisten im Lager eine Organisation schaffen müssen, die der Partei hilft. Und Abrascha Rubin hat gefragt: ›Wer soll Sekretär werden?‹ Nun, Magar ist unser Mann!«
    »Nein, ich werde für dich stimmen«, sagte Neumolimow. »Ihn kenne ich nicht. Und wie willst du ihn finden? Man hat zehn Lastwagen mit Leuten in die Außenreviere

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