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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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unterschrieben?«
    »Du bist doch gesund. Ich habe nicht das Recht dazu.«
    »Du unterschreibst also nicht?«
    »Kolka, mein Lieber, ich schwöre dir, ich würde es mit Freuden tun, aber ich kann nicht …«
    »Du unterschreibst nicht?«
    »Versteh doch, glaubst du wirklich, wenn ich es könnte …«
    »Schon gut. Das war’s.«
    »Wart, wart … kapier doch …«
    »Ich hab kapiert. Und du wirst auch bald kapieren.«
    Der Schwede Stedding, den man kaum mehr von einem Russen unterscheiden konnte – angeblich war er wirklich ein Spion –, riss sich einen Augenblick von dem Bild los, das er auf ein von der Kultur- und Erziehungsabteilung bewilligtes Stück Pappe malte, sah erst Kolka und dann Rubin an, schüttelte den Kopf und wandte sich wieder seiner Malerei zu. Das Bild hieß »Mütterchen Taiga«. Stedding hatte keine Angst vor den Kriminellen, und aus irgendeinem Grund ließen sie ihn unbehelligt.
    Als Kolka sich entfernt hatte, sagte Stedding zu Rubin: »Sie benehmen sich wie ein Idiot, Abram Jefimowitsch.«
    Auch der Weißrusse Konaschewitsch fürchtete die Ganoven nicht. Bevor er ins Lager kam, war er Flugzeugmechaniker im Fernen Osten gewesen und hatte es zum Champion im Halbschwergewicht der Pazifikflotte gebracht. Die Kriminellen hatten Achtung vor Konaschewitsch, aber er nahm nie jemanden, den sie misshandelten, in Schutz.
    Abartschuk schritt langsam den Gang zwischen den zweistöckigen, kreuzförmig angeordneten Pritschen entlang. Die Verzweiflung packte ihn wieder. Das ferne Ende der hundert Meter langen Baracke verschwamm im Machorkaqualm, und immer, wenn er auf dem Weg dahin war, hoffte Abartschuk, dort etwas Neues zu entdecken. Aber es war immer dasselbe: das Podest, auf dem die Häftlinge über Holzrinnen ihre Fußlappen wuschen, die Strohbesen an der gekalkten Wand, die gestrichenen Eimer, auf den Pritschen die zu kurzen Matratzen mit den zwischen den Nähten hervorquellenden Sägespänen, das eintönige Stimmengewirr, die blassen, ausgemergelten Gesichter der Lagerinsassen.
    Die Häftlinge saßen fast alle auf ihren Pritschen und warteten auf das Signal zum Schlafengehen. Sie unterhielten sich über die Suppe, über Weiber, über die Unehrlichkeit des Brotschneiders, über das Schicksal ihrer Briefe an Stalin und ihrer Eingaben an den Generalstaatsanwalt, über die neuen Arbeitsnormen in der Kohlengrube, über den Frost des heutigen und den Frost des morgigen Tages.
    Abartschuk schlenderte langsam weiter, fing hier und dort Gesprächsfetzen auf, und ihm schien, dass dasselbe endlose Gespräch zwischen Tausenden von Menschen seit Jahren andauerte – in der Etappe, bei Massentransporten, in Lagerbaracken. Bei den Jungen ging es um die Weiber, bei den Alten um das Essen. Besonders unangenehm war es jedoch, wenn alte Männer lüstern von Weibern sprachen, während junge Burschen vom guten Essen in der Freiheit schwärmten.
    Als er an Gassjutschenkos Pritsche vorbeikam, beschleunigte er seine Schritte. Aus dem Mund dieses schon bejahrten Mannes, dessen Frau bereits Großmutter war, kamen so abscheuliche Dinge, dass es Abartschuk ekelte.
    Wenn doch endlich das Signal zum Schlafengehen käme und man sich auf die Pritsche werfen dürfte, die Decke über den Kopf ziehen könnte und nichts zu sehen, nichts zu hören brauchte!
    Abartschuk warf einen Blick auf die Tür – gleich würde Magar hereinkommen, Abartschuk würde den Barackenältesten überreden, sie nebeneinanderzulegen, sie würden die Nächte im Gespräch verbringen, aufrichtig und offen, zwei Kommunisten, der Lehrer und der Schüler, beide Mitglieder der Partei.
    Auf den Pritschen der »Herren« ihrer Baracke, des Grubenbrigadiers Perekrest, Barchatows und des Barackenältesten Sarokow, feierte man ein Fressgelage. Perekrests Speichellecker Scheljabow, einst Spezialist für Wirtschaftsplanung, hatte ein Handtuch über ein Tischchen gebreitet und darauf Speck, Heringe und Pfefferkuchen gelegt – Leckerbissen, die Perekrest von allen als Abgabe einforderte, die in seiner Brigade arbeiteten.
    Abartschuk ging an den Pritschen der »Herren« vorbei, und sein Herz drohte vor Erregung auszusetzen. Und wenn sie ihn riefen, ihn aufforderten, sich zu ihnen zu setzen? Er hatte solche Lust, etwas Gutes zu essen, Barchatow, dieser Halunke! Er macht im Werkzeugmagazin, was er will. Abartschuk wusste, dass er Nägel stahl, dass er drei Feilen beiseitegeschafft hatte, aber bei der Kontrolle hatte er kein Wort gesagt. Da könnte er ihm wirklich zurufen: »He,

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