Lebendig und begraben
Vordertür. Jetzt wusste ich nicht mehr, aus welcher Richtung er kommen würde, denn ich kannte das Haus nicht.
Ich musste mich verstecken. Aber wo?
Keine Zeit für lange Überlegungen.
Neben dem Eingang zur Küche gab es eine weitere Tür. Ein Wandschrank möglicherweise, mit einem hölzernen Küchenstuhl daneben. Ich schob den Stuhl ein paar Zentimeter beiseite, öffnete die Tür mit meiner Linken, machte einen Schritt ins Dunkle und fiel ins Leere. Es war kein Wandschrank, es war die
Treppe in den Keller. Ich griff nach irgendetwas, um meinen Sturz aufzuhalten. Ein Holzgeländer. Ich schwang mich darüber und zog die Tür hinter mir zu. Ich behielt den Türdrücker in der Hand, ließ ihn heruntergedrückt, damit der Schnapper nicht laut einrastete.
Ganz leise schloss ich dann die Tür, ging bei der ersten Treppenstufe auf die Knie und schaute durchs Schlüsselloch.
Ich warte darauf, ihn zu Gesicht zu bekommen.
100. KAPITEL
Dragomir Schukow hatte das Auto seitlich am Haus geparkt, nur um sein Muster zu verändern. Man durfte nie vorhersehbar sein.
Das war auch der Grund, weshalb er die Satellitenverbindung ins Internet abgeschaltet hatte. Es war vorhersehbar, dass er verbunden bleiben wollte. Außerdem stellte es ein unnötiges Risiko dar. Es gab Methoden, um ein Internetsignal zurückzuverfolgen.
Natürlich hatte er eines der Kabel an Ort und Stelle gelassen. Nämlich das, was seinen Computer mit dem Sarg verband. Dieses Vergnügen wollte er sich nicht entgehen lassen.
Ehe er die Tür öffnete, spähte er nach unten auf die Türschwelleund sah den kleinen Streifen durchsichtigen Klebebandes, den er zwischen Türschwelle und Türblatt angebracht hatte. Er war immer noch an derselben Stelle. Also war niemand hier eingedrungen.
Jedenfalls war es nicht wahrscheinlich. Ganz sicher konnte man nie sein.
Schon vor langer Zeit hatte Dragomir begriffen, wie wichtig es war, nichts dem Zufall zu überlassen. Das war eine der vielen Lektionen, die er auf der Universität der Hölle gelernt hatte, auch Gefängnis Nr. 1 in Kopeisk genannt.
Die Überweisung war auf seinem Konto gutgeschrieben, der Mittelsmann eliminiert.
Er hatte Vorkehrungen für eine schnelle Flucht getroffen, falls die Sache nicht nach Plan lief. In der Stahlkiste, die er auf dem Blackwoods-Campingplatz im Acadia-Nationalpark in Maine vergraben hatte, befanden sich ein ukrainischer Reisepass und ein Haufen Bargeld in US-Dollars und Euro. Der Reisepass war noch zwei Jahre gültig.
Mit einer neuen Identität würde es ein Leichtes sein, die Grenze nach Kanada zu überqueren und von dort aus einen der vielen internationalen Flüge zu buchen, die ihn aus Montreal wegbringen würden.
Die einzige Arbeit, die noch zu erledigen war, konnte man kaum als Arbeit bezeichnen.
Es war seine Belohnung für all die langen und lästigen Tage der Wachsamkeit, der Zurückhaltung und der Geduld.
Er wusste, wie es ablaufen würde: Er hatte es unzählige Male geprobt und die Vorfreude darauf genossen. Er wollte dem jungen Mädchen erzählen, was mit ihr passieren würde, weil es nichts Reizvolleres gab, als einem Opfer zu erzählen, welches Ende ihm bevorstand, und zuzusehen, wie es darauf reagierte. Stunde um Stunde hatte er sich an ihrer Angst weiden können, aber wenn sie die präzisen und klinischen Detailsüber das erfahren würde, was er für sie geplant hatte, würde ihre Furcht einen ganz neuen körperlichen Zustand erreichen.
Dann ging er noch einmal systematisch durch, was er zu tun hatte: Er würde den Luftschlauch von dem Kompressor trennen und ihn mit dem Messing-Verbindungsstück am Gartenschlauch befestigen. Sobald er den Hebel des Wasseranschlusses nach oben drückte, würde das Wasser zu fließen beginnen. Es würde nur ein paar Sekunden dauern, bis das Wasser in den Sarg zu tröpfeln begann.
Er hatte vorher schon kleine Tiere, Mäuse, Streifenhörnchen, Kaninchen und eine streunende Katze, in einer Tonne ertränkt. Aber die Schreie und die verzweifelten Kletterversuche eines dummen Tieres waren letztendlich nicht befriedigend gewesen. Ihnen fehlte die ängstliche
Erwartung
.
Das Mädchen aber würde das Tröpfeln hören und dann sofort Bescheid wissen.
Würde die Kleine wohl schreien oder betteln, oder beides?
Wenn der Wasserpegel stieg und die Luftblase kleiner wurde, würde sie wild um sich schlagen und treten, aber vor allem würde sie betteln.
Er hatte einige Berechnungen angestellt. Das Innenvolumen des Sargs betrug 870 Liter. Wenn man
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