Lebenschancen
Haushaltsmitgliedern gewichteten) Medianeinkommens zugrunde, gehörten in den achtziger Jahren relativ stabil etwa 64 Prozent der Westdeutschen zur Mitte, im wiedervereinigten Deutschland waren es im Jahr 1992 ca. 62 Prozent oder knapp 50 Millionen Menschen. Bis zur Jahrtausendwende stieg diese Zahl leicht an, seitdem wird die Mitte kleiner (Grabka/Frick 2008). Neuere Zahlen zeigen: Von 1999 auf 2009 schrumpfte der Anteil der Mittelschicht an der Gesamtbevölkerung von 64 auf 59 Prozent, wir reden dabei von 4,5 Millionen Personen bzw. neun Prozent der Menschen, die zehn Jahre zuvor noch zur Mitte gehörten. Besonders betroffen waren von dieser Entwicklung die Angehörigen der unteren Mittelschicht (70 bis 90 Prozent
des Medianeinkommens) (Grabka 2011). In der Unterschicht gab es dagegen eine Zunahme von 18 auf 22 Prozent; die obere Einkommensschicht wuchs bis zur Krise leicht und wurde dann wieder etwas kleiner.
Wenn wir andere Mittelschichtindikatoren wie Bildung oder beruflichen Status betrachten, fällt die Bewertung weniger eindeutig aus. Mit einem Mehr an Bildung und qualifizierten beruflichen Tätigkeiten wirkt es fast so, als würde der Mittelschichtbauch immer noch wachsen. Immerhin werden die »gebildeten« Schichten allein aufgrund des demografischen Wandels deutlich größer: Ältere Menschen weisen oft eine eher niedrige formale Bildung auf, während die nachwachsenden Generationen häufig eine typische Mittelschichtausbildung durchlaufen haben ( ISG 2011: 18 ff.). Das alles klingt prinzipiell nach »mehr Mitte«, nicht nach Schrumpfung, möchte man meinen. Bei einer solchen Interpretation ist jedoch Vorsicht geboten, da sich die genaue Position in der Statushierarchie erst aus einem Zusammenspiel mehrerer Faktoren ergibt. Ein Mehr an Bildung bedeutet zunächst auf der kollektiven Ebene ein Mehr an Bildungstiteln und -zertifikaten, dadurch werden diese aber zugleich tendenziell entwertet. Ein Hochschulabschluss beispielsweise ist heute zwar immer noch eine notwendige, aber längst keine hinreichende Bedingung mehr, wenn es darum geht, in die obere Mittelschicht vorzustoßen. Das bedeutet zugleich, dass sich der Anteil der Hochgebildeten auch in den unteren Einkommensklassen erhöht (ebd.). Und natürlich können Menschen mit geringer Bildung nach wie vor in die Mittelschicht aufsteigen, wenn sie berufliche Erfolge vorzuweisen haben. So wissen wir beispielsweise aus Befragungen zur subjektiven Schichteinstufung, dass sich in der Gruppe der Menschen, die höchstens über einen Hauptschulabschluss verfügen, immerhin 47 Prozent der Mittelschicht zurechnen, während 15 Prozent der Personen mit Abitur oder Fachhochschulreife angeben, zur Arbeiter- oder Unterschicht zu gehören (Noll/Weick 2011).
Auf- und Abwertungen beobachten wir auch im Feld der Berufe: Je mehr qualifizierte Tätigkeiten es gibt, desto weniger können diese automatisch einen gehobenen Status vermitteln. Parallel werden neue Tätigkeitsfelder (etwa das Investmentbanking) aufgewertet, während andere Berufe geradezu massenhaft deklassiert werden. Journalisten sind hier ein gutes Beispiel. Es gibt natürlich immer noch Leitartikler, Edelfedern und prominente politische Journalisten, die von ihrer Arbeit sehr gut leben können und hohes Ansehen genießen; ihnen steht aber ein wachsendes Heer freier Journalisten gegenüber, deren Arbeitsbedingungen und Entlohnung sich sukzessive verschlechtern (Gottschall 1999). Mit einem Zeilenhonorar zwischen 80 Cent und einem Euro kann man es kaum zu Wohlstand bringen; tatsächlich kommt nur eine Minderheit der freien Journalisten über einen Jahresnettoverdienst von 30 000 Euro hinaus. Daher ist bereits vom neuen »Medienprekariat« die Rede: schlecht bezahlt, auf unsicheren Märkten, ohne langfristige Planbarkeit und Perspektive.
Die abstrakten Kategorien von Bildung und Beruf sind heute also nur bedingt aussagekräftig, wenn es um die Erfassung der tatsächlichen Lebensbedingungen geht. Zudem handelt es sich dabei um Merkmale von Individuen, über die Situation eines Haushalts insgesamt verraten sie wenig. Insofern ist es trotz aller methodischen Bedenken und Verengungen sinnvoller, sich das Haushaltseinkommen anzusehen, wenn man die Lage einer Familie, eines Haushalts oder eben der Mittelschicht insgesamt beschreiben und einschätzen möchte. Kritiker der These vom Schrumpfen der Mittelschicht monieren, dass dieser Trend nicht besonders stark sei (Enste et al. 2011, ISG 2011). Und in der Tat: Von einer
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