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Lebenschancen

Lebenschancen

Titel: Lebenschancen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffen Mau
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exorbitanten Verkleinerung der Mittelschicht kann derzeit noch nicht die Rede sein. Einige wenige Prozentpunkte in einem Jahrzehnt, was ist das schon? Dennoch: Dass die Mittelschicht überhaupt schrumpft, ist ein vollkommen neues Phänomen, welches einen Bruch mit dem lange gültigen Wachstums- und Wohlstandsmodell darstellt. Die Vermeidung allzu großer
Einkommensunterschiede und die kollektive Teilhabe an den wirtschaftlichen Gewinnen waren lange Zeit die Garanten einer stabilen Mittelschicht. Nun scheint die Entwicklung in eine andere Richtung zu weisen, mit mehr Ungleichheit und größerer Polarisierung.
    Ein weiterer Trend gibt Anlass zur Sorge: Die Mittelschicht wird zunehmend von staatlichen Leistungen abhängig. Ohne den Staat wäre sie über die Zeit noch stärker geschrumpft. Betrachtet man die Größe der Mitte nach den Markteinkommen (also die Einkommen ohne die Berücksichtigung von Steuern und Transfers), so ist der Mittelschichtschwund noch markanter. Eine Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales kam zu dem Ergebnis, dass die Gruppe in der Kategorie der mittleren Einkommen (70 bis 150 Prozent des äquivalenzgewichteten Medianeinkommens vor Steuern und Sozialtransfers) seit 1993 von 39 auf 31 Prozent abgenommen hat. Bezogen auf die vormalige Größe der Mittelschicht ist das ein Abschmelzen um mehr als 20 Prozent ( ISG 2011: 17). Das heißt im Umkehrschluss, dass die Schrumpfung der Mittelschicht von Marktprozessen angetrieben wird und dass die Mitte ohne die Umverteilungs- und Kompensationsleistungen des Staates heute noch kleiner wäre, und zwar deutlich. Es bedeutet weiterhin, dass die Mittelschicht insgesamt transferabhängiger geworden ist. Zugleich wird die Mittelschicht stark zur Finanzierung des Sozialstaates herangezogen, sie ist nicht nur Nutznießer. Fachleute sprechen vom »Mittelstandsbauch« der Steuertarife, auch kalte Progression genannt. 1958 musste man den Spitzensteuersatz etwa ab dem 20-fachen des Durchschnittseinkommens entrichten, heute greift er bereits beim etwa Eineinhalbfachen des durchschnittlichen Verdiensts (Stern 2011). Für einen Teil der Mitte heißt das: Sie gelten als »Spitze«, ohne sich selbst so zu fühlen. Zugleich verschiebt sich ihre relative Position im Steuergefüge, verursacht vor allem durch die Anhebung des Grundfreibetrags und die deutliche Absenkung des Spitzensteuersatzes (ebd.). Da
mit sinkt der Nettoeinkommensabstand zu den ärmeren Gruppen, und der zu den Besserverdienenden steigt.
    Der Trend eines Abbröckelns der Mitte lässt sich in vielen OECD -Ländern beobachten (Pressman 2007; Brandolini 2010). Dort finden ganz ähnliche Diskussionen statt wie hierzulande, die Situation ist allerdings oft deutliche dramatischer: In Italien spricht man vom Malessere del ceto medio (so im 2009 erschienenen Buch von Arnaldo Bagnasco), im englischsprachigen Raum von der Shrinking Middle Class (Collado 2010), in Frankreich von Les Classes moyennes à la dérive (Chauvel 2006). Vor allem in den USA verschärft sich das Problem: Viele Angehörige der Mittelschicht sind verschuldet, die Einkommen stagnieren, immer mehr Menschen sind von Arbeitslosigkeit bedroht. Amerikanische Wissenschaftler haben herausgefunden, dass sich das Risiko, innerhalb von zwei Jahren einen Einkommensverlust um 50 Prozent hinnehmen zu müssen, für eine typische Familie seit den siebziger Jahren mehr als verdoppelt hat (Hacker 2006). In den Ländern Südeuropas (und auch in Israel) gelten vor allem junge, qualifizierte Menschen, die sich in letzter Zeit immer wieder öffentlich zu Wort gemeldet haben, als verlorene Generation: überqualifiziert, unterbezahlt, oft arbeitslos. Es verwundert nicht, dass viele der Proteste der letzten Monate und Jahre von Angehörigen der gefährdeten Mittelschichten ausgingen, die ihre Lebenschancen schwinden sehen. Sie thematisieren die eingetrübten Aussichten auf dem Arbeitsmarkt, steigende Lebenshaltungskosten (inklusive der Kosten für Miete und Energie), die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, allgemeine Zukunftsängste, Kosten der Bildung, ihre Unzufriedenheit mit den Regierenden, mangelnde soziale und politische Teilhabe und den Rückbau des Sicherungsnetzes. Im Zuge der Banken- und Schuldenkrise ist zudem eine Bewegung entstanden, die sich gegen Überhitzungen und Fehlentwicklungen des Finanzsystems und die Rettung der Banken wendet. Dass im Bankensektor Profite privatisiert und Risiken sozialisiert werden, empfinden viele,

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