Lebenschancen
2011: 14) kommen eben nicht aus Migranten- oder Unterschichtfamilien, sondern aus der qualifizierten und integrierten Mitte. Stellt man die niedrige Geburtenrate und die Abnahme der Zahl der Eheschließungen in einen größeren Kontext, dann sieht man den Zusammenhang zwischen der Ökonomisierung der Gesellschaft und den Veränderungen der Bindungs- und Familienmuster deutlich. Kinder zu gebären, zu umsorgen und zu erziehen, lässt sich mit den Anforderungen flexibilisierter Arbeitsmärkte nur bedingt vereinbaren. Die alten Rollenmodelle sind in unseren Institutionen aber nach wie vor starr und fest verankert, und die Arbeitswelt stellt die Menschen vor immer schwierigere Anforderungen. »Nine to five« – das gibt es im qualifizierten Arbeitsmarktsegment heute kaum noch. Der Ausbau der Kinderbetreuung, der nun langsam voranschreitet, läuft im Grunde
den erhöhten Flexibilitätsanforderungen andauernd hinterher. Es verwundert daher nicht, dass Frauen nach der Familiengründung oft den Arbeitsmarkt verlassen oder in Teilzeitstellen wechseln (Allmendinger 2010). Wolfgang Streeck, der Direktor des Kölner Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, formuliert es sehr deutlich:
»Unter Verweis auf einen verschärften Wettbewerb verlangten Arbeitgeber von ihren Beschäftigten immer mehr Flexibilität, Mobilität und ›volles Engagement‹ bei abnehmender Sicherheit des Arbeitsplatzes. Frauen, die ihre Beschäftigungs-und Aufstiegschancen wahren wollten, taten unter diesen Umständen gut daran, sich nicht auch noch mit Kindern zu belasten – und tatsächlich ist es kein Geheimnis, dass in vielen Branchen der bloße Sachverhalt, dass Frauen Menschen sind, die Kinder bekommen können, als solcher ein nur schwer überwindbares Beschäftigungs- und Beförderungshindernis ist.« (2011: 8)
Ganz generell hat Arbeitsmarktunsicherheit negative Auswirkungen auf Familiengründungspläne. Ich habe den Untergang der DDR eingangs schon als drastisches Beispiel erwähnt: Innerhalb kürzester Zeit kam es zu einem starken Absinken aller wichtigen Kennziffern der demografischen Entwicklung. Die Zahl der Geburten fiel zwischen 1988 und 1992 um 60 Prozent, die der Eheschließungen um 65 Prozent. Im historischen Vergleich ist dieser Einbruch als dramatisch zu bezeichnen (übrigens sanken auch die Scheidungen stark, unter anderem verursacht durch das veränderte Scheidungsrecht). In anderen osteuropäischen Staaten reagierten die Menschen ähnlich: Geburtenzahlen und Heiratsziffern nahmen rasant ab. Wolfgang Zapf und ich (1993) haben das in einem der ersten Aufsätze zum Thema als »demografische Revolution« bezeichnet. Die Ostdeutschen, intensiv damit beschäftigt, den Systemwechsel zu verdauen und sich in den neuen Institutionen zurechtzufinden, bekamen kaum noch Kinder. Zwar redeten einige öffentliche Stimmen von einem »Gebärstreik«, einer bewussten kollektiven Verwei
gerung, tatsächlich hatte eher eine Schockstarre die ostdeutsche Teilgesellschaft befallen, es handelte sich nicht wirklich um aktiven sozialen Protest. Krisenphänomene oder Situationen, die als krisenhaft erlebt werden, haben häufig eine Verengung und Verkürzung des individuellen Horizonts zur Folge. Das Zurechtkommen im unmittelbaren Hier und Jetzt wird wichtiger als die entfernte Zukunft. Langfristige biografische Planungen werden revidiert oder einem Moratorium unterworfen. Es ist nicht so, dass der Kinderwunsch ostdeutscher Frauen über Nacht verschwunden wäre, eher rückte die Bewältigung von Anpassungserfordernissen in den Vordergrund.
Warum reagieren Fertilität und Heiratsverhalten so feinfühlig auf Unsicherheiten? Die Entscheidung zur Familiengründung stellt eine biografische Festlegung auf viele Jahre dar, die sich kaum revidieren lässt. Coping bedeutet hier: »Irreversible Entscheidungen vermeiden!« (Schimank 2011a: 461) Kinder bringen eine Beschränkung des sozialen Möglichkeitsraums mit sich. Ist ein Kind erst einmal da, muss man sich darum kümmern. Wer ein Kind hat, ist weniger mobil, weniger flexibel, weniger zeitsouverän. Männer haben es aber immer noch deutlich leichter, die Verpflichtungen und zeitlichen Einschränkungen, welche Kinder mit sich bringen, aufzubrechen. Auch bei Trennungen bleiben die Mütter oft die Letztverantwortlichen für die Versorgung und Erziehung des Nachwuchses. Wenn man nicht weiß, womit man in einem Jahr sein Geld verdienen wird, fällt die Entscheidung zur Familiengründung oft schwer. Viele
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