Lebenschancen
abenteuerlustige Pioniere. Sie haben nicht zuletzt Angst, in einen Abwärtssog zu geraten und von den Problemen des abgehängten Quartiers angesteckt zu werden. Umgekehrt treiben auch die alteingesessenen Bewohner des Wedding Befürchtungen um. Sie beobachten, dass Galerien und Designerläden in der Brunnenstraße aufmachen und dass sich das landeseigene Wohnungsunternehmen DEGEWO mehr und mehr um besserverdienende Mieter bemüht.
Ein weiterer Aspekt der wachsenden Ungleichheit, der sich ebenfalls im städtischen Umfeld ausbreitet, sind die Grenzziehungen und Konflikte zwischen Armut und Wohlstand. Man
kennt solche Probleme aus lateinamerikanischen Ländern, sie haben schon längst auch die ökonomisch stark polarisierten USA erreicht. Der Schriftsteller T. C. Boyle hat den Zusammenprall von Mittelschicht-Idyll und neuen Gefahren in seinem Roman América eindrucksvoll beschrieben. Im Mittelpunkt stehen die Mossbachers, weiße Amerikaner, die in einer schicken Wohnanlage am Rande von Los Angeles leben. Delaney Mossbacher ist Hausmann und Journalist. Eines Tages fährt er Cándido Rincon an, einen illegalen Einwanderer aus Mexiko, der mit seiner schwangeren Freundin América im Canyon unterhalb der vornehmen Wohnsiedlung im Freien haust. Als später ein Coyote den Terrier der Mossbachers reißt, fordert Delaneys Frau Kyra einen Schutzzaun um das Grundstück. Die anderen Anwohner machen sich Sorgen wegen der Mexikaner, sie wollen ein Tor errichten lassen und bewaffnete Wachleute anheuern. Die eigentlich tolerante und liberale Mittelschicht bekommt Angst und reagiert darauf mit einer Art Selbstghettoisierung.
Gated communities , geschlossene und bewachte Wohnanlagen für die Bessergestellten, sind heute in vielen Teilen der Welt ein normaler Bestandteil des Stadtbilds (Caldeira 1996). Dabei geht es nicht nur um Sicherheit, sondern auch um ein Gefühl der Homogenität und des Unter-sich-Seins. In den Vereinigten Staaten hat sich der Zahl der gated communities in den letzten dreißig Jahren Schätzungen zufolge verzwanzigfacht. Der österreichische Geograf Klaus Frantz (2000), der den Ballungsraum Metro-Phoenix (Arizona) untersucht hat, zählte dort bereits in den späten Neunzigern über 600 solcher Anlagen. 13 Prozent davon wurden von besonders begüterten Menschen bewohnt, 81 von Angehörigen der gehobenen und mittleren Mittelschicht, in lediglich vier Prozent der Fälle handelte es sich um gemischte Quartiere.
Deutschland ist von solchen Zuständen im Moment noch ein gutes Stück entfernt. Typische Mittelschichtgrundstücke in der Provinz sind nach wie vor ohne größere Hindernisse zugäng
lich. Umgeben sind sie nicht von hohen Mauern, sondern von Büschen, Hecken oder hüfthohen Jäger- bzw. wahlweise Maschendrahtzäunen. Bewacht werden sie maximal von Gartenzwergen, und man muss nicht sein Gesicht in eine Kamera halten, bevor die Tür geöffnet wird. Doch auch hierzulande droht der gehobenen Mittelschicht Ungemach. In aufgewerteten und bürgerlichen Vierteln steigt die Anzahl der Wohnungseinbrüche, etwa in den besseren Bezirken Berlins. Am helllichten Tag werden Türen aufgebrochen, die Diebe fliehen unbemerkt mit Flachbildfernsehern und Laptops. In Charlottenburg-Wilmersdorf betraf das laut Polizeistatistik 2009 immerhin jede 127. Wohnung. Ähnlich hoch sind die Zahlen in Mitte oder Prenzlauer Berg. In Lichtenberg dagegen, einem sozial deutlich schlechter gestellten Bezirk, können sich die Bewohner diesbezüglich sicherer fühlen: In nur jeder 665. Wohnung machten sich Einbrecher zu schaffen. Eigentumsdelikte können im weitesten Sinne als Wasserstandmelder für das soziale Klima angesehen werden: Es ist nie ein gutes Zeichen, wenn die Kosten für die eigene Sicherheit steigen, doch inzwischen boomt auch in Deutschland die Sicherheitsbranche, die ihre Kunden mit biometrischen Zugangssystemen, Außenhautüberwachungen, zentralen Einbruchsmeldern, Panzerriegeln und unzerstörbarem Fensterglas beliefert. In der »Angstgesellschaft« (Haesler 2011: 31) sind eben irgendwann alle permanent auf der Hut.
Die Zahl der gated communities ist in der Bundesrepublik derzeit zwar immer noch begrenzt, vor allem wenn man sie im engeren Sinne als abgeschlossene und bewachte Wohnanlagen versteht. Es gibt aber mittlerweile durchaus Vorstufen und light -Versionen, die sich in erster Linie an die Ober- und Teile der gehobenen Mittelschicht richten. Als erste richtige gated community Deutschlands gilt dabei die Siedlung Arcadia in
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