Lebenschancen
Früchte dieser Anstrengungen denjenigen gehören, die sie geleistet haben. Diese Basisüberzeugung ist fester Bestandteil der »Erfolgskultur der Marktgesellschaft« (Neckel 2008b). Ein tief sitzender und durch eigene Erfahrungen gesättigter Glaubenssatz lautet, dass sich Aufstiegsaspirationen lohnen. Und: Wenn ich es schaffe, dann können es auch andere schaffen. Sarrazins Buch ist von einigen aufmerksamen Lesern, so von Nils Minkmar von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung , auf originelle Weise als klassischer Bildungsroman interpretiert worden, in dessen Mittelpunkt Sarrazins eigener Aufstieg steht, wobei seine Anstrengungen sehr zur Nachahmung empfohlen werden. Im O-Ton liest sich das so:
»Die wirklich Tüchtigen lassen sich offenbar auch durch ungünstige Umstände nicht abschrecken – und das ist eine durchaus trostreiche Erkenntnis. Man muss letztlich also stets beim Willen und beim Ehrgeiz des Individuums ansetzen. Niemals darf man es dem Einzelnen durchgehen lassen, sich auf Gruppennachteile herauszureden.« (Sarrazin 2010: 234)
Die lehrmeisterliche Strenge solcher Sätze muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen: Kollektive Nachteile (oder gar die Diskriminierung) bestimmter Gruppen seien kein legi
times Argument, um soziales Scheitern zu erklären oder zu verteidigen. Wenn Einzelne, die sich wirklich Mühe geben, es schaffen können, kann das auch allen anderen gelingen. Kants kategorischer Imperativ wird hier auf den Kopf gestellt: Mache Dein individuelles Schicksal zur Maxime für alle anderen. Eine solche Abwertungsrhetorik ebnet den Weg für eine »Sezession der Erfolgreichen« (Bauman 2009: 63).
Diese Form der heroischen Selbststilisierung ist nicht auf Einzelfälle beschränkt. Ganz allgemein lässt sich zeigen, dass Menschen mit erfolgreichen Aufstiegsbiografien sozialer Ungleichheit weniger kritisch gegenüberstehen (Sachweh 2009). Sie gelten eher als affirmativ, was ihre Haltung gegenüber von Markt und Wettbewerb induzierten Statusunterschieden angeht. Ihrem Selbstverständnis nach kommt es eben nicht auf Fortune (höchstens das berühmte »Glück des Tüchtigen«) und günstige Bedingungen an, sondern auf Willen, Ehrgeiz und Fleiß, die allen Hindernissen zum Trotz mobilisiert werden. Auch diejenigen, die von Geburt an zur Elite gehören, reden den Herkunftsfaktor oft klein. Daten vom Institut für Demoskopie Allensbach (Köcher 2009: 123) machen deutlich, dass es eine »Wahrnehmungsdifferenz« (Schupp 2010: 19) zwischen den Eliten und dem Rest der Bevölkerung gibt, fast so, als lebten sie in unterschiedlichen Welten. Fragt man Durchschnittsbürger, ob zwischen sozialem Aufstieg und der Schicht, aus der man kommt, ein Zusammenhang besteht, bejahen das insgesamt 63 Prozent. Stellt man dieselbe Frage ausschließlich Führungskräften, antworten fast vier Fünftel (85 Prozent), unsere Gesellschaft sei durchlässig, jeder könne aufsteigen. Kein Wunder, dass in diesen Kreisen häufig von »Leistungsgerechtigkeit« die Rede ist. Wilhelm Heitmeyer und sein Team haben herausgefunden, dass Menschen, die das Leistungsprinzip besonders stark verinnerlicht haben, jene Gruppen abwerten, denen sie Motivation und Kompetenzen absprechen (2010). In der Wettbewerbsgesellschaft wird Scheitern vor allem individuell zugerechnet: »Weil der
Schwache, Langsame, Unkreative, Unattraktive im freien und fairen Wettbewerb unterliegt, erfährt er ›gerechte‹ soziale Missachtung und Geringschätzung im Sinne der Leistungsgerechtigkeit des Wettbewerbs.« (Rosa 2006: 98)
Dass das Leistungsprinzip weiter aufgewertet wird, wenn die Abgabenlast als zu hoch empfunden wird oder der eigene Status als bedroht, liegt auf der Hand. Genau das ist ja der Grund für die hochfahrenden Besorgnisreden um die »Ausplünderung der Mittelschicht«, die »abgezockte Mitte« oder das »Melkvieh Mittelschicht« (Beise 2009; Wemhoff 2009). Peter Sloterdijks Attacke auf den »nehmenden Staat« speist sich gerade aus solchen Vorbehalten (2010). Auch Sloterdijk identifiziert die Erosion der Mitte als neue soziale Frage, macht aber zuallererst den ausufernden Steuerstaat als Ursache aller Probleme aus. Er interpretiert ihn als Maschine zur Ausbeutung der Produktiven durch die weniger Leistungsbereiten und teilt die Bevölkerung ein in »Steueraktive« und »Steuerpassive« bzw. »Transfermassengeber« und »Transfermassennehmer«. Die von ihm vorgebrachte Alternative setzt sich von der Zwangsbelastung produktiver Gruppen ab und
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