Lebenslänglich Klassenfahrt: Mehr vom Lehrerkind (German Edition)
heiß laufen, durchaus berechtigt war. Im Gegensatz zu anderen Lehrern, die notfalls die gesamte Weltgeschichte umdeuteten, um sich nicht zu blamieren, machte Herr Rottner keine Fehler. Er konnte jedes politische Ereignis der letzten zweitausend Jahre auf den Tag genau datiert wiedergeben und manchmal auch lustige Hintergrundinformationen nachliefern. So zum Beispiel, dass Adenauer damals nur die Mehrheit erlangt hatte, in dem er sich selbst wählte. Seine Inselbegabung als Gedächtniswunder wurde nur noch durch seinen Anblick komplettiert, denn er sah aus wie Gregor Gysi auf Wachstumshormonen. Ein schlaksiger, spindeldürrer Körper, an dessen Rumpf ein großer, kahler Schädel mit Nickelbrille und Schelmengrinsen saß.
Seine Grandezza zeigte sich auch in den Diskussionen, die er mit uns, die von ihm den liebevollen Spitznamen »Verbalterroristen« bekommen hatten, führte.
Hier ein Gesprächsprotokoll zwischen Herrn Rottner und Gökhan.
Herr Rottner: »Was zeichnet eine Diktatur aus?«
Gökhan, ohne sich zu melden: »Dass alle machen, was einer sagt.«
Herr Rottner (überrascht, dass Gökhan nicht einfach Furzgeräusche mit seiner Achsel nachgeahmt hatte, sondern eine echte Antwort gab): »Richtig, und wo gibt es so was heute noch?«
»Ja, inne Schule, wo sonst. Sie sagen, wir machen, ne?«, antwortete Gökhan und lachte.
Herr Rottner (etwas entgeistert): »So ein Quatsch. In einer Diktatur fehlt der freie Wille. Ihr müsst ja nicht hier sein!«
Gökhan: »Und was ist mit Schulpflicht?«, fragte er erstaunlich wirklichkeitsnah.
Herr Rottner (überlegt kurz, kneift die Augenbrauen zusammen): »Gut, dann doch Diktatur … und ihr macht jetzt, was ich sage, und schlagt Seite 135 auf. Und du, Gökhan, hältst die Klappe!«
Bei manch anderem Lehrer hätte Gökhan die Anweisung sicherlich missachtet, bei Herrn Rottner holte er jedoch wahrhaftig sein geschundenes Politikbuch heraus und gab zumindest vor, darin zu lesen.
»Gökhan Mutlu«, las Herr Rottner den nächsten Stimmzettel vor, langsam kristallisierte sich ein Favorit für unsere Klassensprecherwahl heraus, und das war nicht ich. 27 Stimmen für Gökhan, eine für mich, damit war ich weiter unter der Fünf-Prozent-Hürde als die FDP.
Warum wollten meine Mitschüler in Zukunft in einer Schreckensherrschaft leben, gegen die im Vergleich selbst Nordkorea oder Iran wie Inseln der Demokratie wirkten? Vielleicht lag es an Gökhans Wahlprogramm, das er uns um Vorfeld vorgestellt hatte.
Dieses lautete: »Wer mich nicht wählt, bekommt herbe in die Fresse« und hatte ähnlich tyrannische Züge, wie sie unser künftiger Klassensprecher auch im sonstigen Sozialkontakt an den Tag legte. Ich stellte mir unsere Klasse unter seiner Herrschaft ein wenig wie das Königreich Mordor vor, ich sah den kleinen, bärtigen Jungen mit dem Machtkomplex schon die ersten ihm hörigen Orks aus dem Schlamm des Schulgartens bergen, selbst Herr Rottner schien daran zu zweifeln, ob Gökhan seinen späteren Pflichten nachkommen könnte.
»Du weißt schon, dass du die Klasse dann in Zukunft vertreten musst, Gökhan?«, fragte er zweifelnd in Richtung des baldigen Wahlgewinners, der währenddessen einen riesigen Penis auf seinen Tisch malte.
»Joa, sind bald alle meine Knechte, geil«, fasste Gökhan die Aufgaben seiner künftigen Anhänger in knappe Worte. Mit seinem Wahlprogramm hatte er nicht zu viel versprochen.
»Du weißt aber, dass du dann auch an den monatlichen Stufenkonferenzen teilnehmen musst?«, fragte Herr Rottner den verdutzt aussehenden Fastdespoten.
»Konferenzen … schieeesch … watt soll ich denn da?«, fragte Gökhan und blickte von seinem Comicpenis auf.
»Die Klasse vertreten, die Konferenzen sind natürlich immer nach Unterrichtsende am Nachmittag, das ist dir schon klar, oder?«
»Schieesch … nachmittags … ey, da hab ich Training, bin B-Jugend«, offenbarte Gökhan sein tägliches Curriculum zur Leibesertüchtigung – anders war sein körperlich anstrengender Plan, allen Nichtwählern auf die Fresse zu hauen, auch kaum zu gewährleisten.
»Auch die monatlichen Treffen mit dem Direktor werden dir nicht unvertraut sein, oder?«, fragte Herr Rottner erneut nach, und langsam begann sich Gökhans haariges Gesicht zu einer flauschigen Kugel des Schmerzes zu verwandeln.
»Direktoaaaar? Der is’ voll der Bastard … ey«, sprengte Gökhan die Grundlage des interdisziplinären Dialogs.
»Ich hab kein Bock auf den Scheiß, ich trete zurück«, beendete Gökhan seine
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