Lebenslänglich Klassenfahrt: Mehr vom Lehrerkind (German Edition)
ausgestattet und dafür prädestiniert, jeden Tag in ihrem Job als Erdkundelehrerin wie die pure Hölle zu erleben.
Wahrscheinlich wäre Frau Dr. Löffler auch mit dem Bewachen einer Ulme im Stadtpark überfordert gewesen, ein ganzer Raum voller Teenager mit dem Mitleidsempfinden einer Horde brandschatzender Wikinger war eindeutig zu viel.
Außerdem hatte sie eine verhängnisvolle Neigung zu Motivpullovern und erschreckte jeden Tag aufs Neue eine Klasse mit grob gestrickten Grausamkeiten. Mal jaulte ein Wolf vor einer nebelverhangenen Bergkette, mal saß ein Weißkopfseeadler auf einem Tannenzipfel. Das war feinste Paintbrush-Motivik auf Zopfmuster.
Wir hatten sie jetzt erst seit einigen Wochen, doch der Klassenkörper unserer akut pubertierenden 10b hatte das schmale Persönchen am Lehrerpult bereits so weit zermürbt, dass Frau Dr. Löffler meist schon gebückt den Klassenraum betrat. Es war ein trauriger Anblick, besonders wenn man bedachte, dass Frau Dr. Löffler eigentlich eine wahnsinnig nette Dame war, die irgendwann während ihrer Berufsfindungsphase einfach mal die falsche Abzweigung genommen hatte und nun dazu verdammt war, vierzig Jahre pure Tortur zu erdulden.
»Ähm ja, dann fangen wir mal mit Norwegen an, kann mir jemand sagen, wie die Hauptstadt dieses skandinavischen Landes heißt?«, versuchte sie nach dem Penis-Zwischenfall einen ersten Ansatz von Unterricht und verdeckte dabei mit ihrer kleinen, schmalen Hand das Wort »Oslo«, das irgendwo im Bannkreis des Pimmels lag.
»Penishausen«, rief Simon Burscheid und erzeugte großes Gelächter, wobei eines der Defizite von Frau Dr. Löffler für noch mehr Erheiterung sorgte, da ihr nämlich jedes Ironieverständnis abging. Sie nahm selbst die dümmsten Antworten ernst und neigte auch zur Beantwortung rhetorisch gemeinter Fragen.
»Nein, das ist nicht richtig, so eine Stadt gibt es nicht, Simon«, antwortete sie daher trocken wie ein Knäckebrot.
»Ich weiß es!«, brüllte Gökhan und weckte in Frau Löffler einen kleinen Hoffnungsschimmer.
»Ja, Gökhan, bitte«, huschte ein kleines Lächeln über die schmalen Lippen unserer Lehrerin, deren bange Hoffnung leider in genau drei Sekunden wieder enttäuscht würde.
3 … 2 … 1 …, zählte ich im Kopf mit.
»Hodenhagen«, prustete Gökhan nicht unkreativ heraus.
»Nein, Hodenhagen liegt in Deutschland, Gökhan«, wiederholte Frau Dr. Löffler ihr Bekenntnis zum Ironieverzicht.
»Oslo«, erlöste ich Frau Löffler, was mir ein Wurfgeschoss von Gökhan gegen den Hinterkopf einbrachte.
»Gökhan, sofort nach vorne!«, erregte sich unsere ansonsten so friedfertige Pädagogin. Schlaff erhob sich Gökhan von seinem Stuhl und wankte an mir vorbei.
»So, du bekommst jetzt einen Tadel im Klassenbuch!«, ereiferte sich Frau Löffler und machte die Misere dann noch schlimmer, als sie triumphierend mit dem roten Stabilo über dem Klassenbuch herumfuchtelte. Kurz bevor sie ein Wort über Gökhans infantiles Verhalten niederschreiben konnte, nahm der ihr einfach den Stift weg und schmiss ihn aus dem halb offenen Fenster. Frau Löffler starrte erst ungläubig Gökhan an und dann ihrem bisschen Befehlsgewalt hinterher, das jetzt im Blättermatsch drei Stockwerke tiefer lag. Gökhan lächelte wie ein Scharfrichter mit Schüttellähmung.
»Ich halt das einfach nicht mehr aus … aaaah«, brüllte sie und verkrampfte dabei ihr Gesicht und rannte schnurstracks Richtung Klassenzimmertüre, bog kurz vorher rechts ab und stieg in den leeren Schrank, der wie ein brauner Legostein in der Ecke des Raumes stand.
Meine Mitschüler und ich starrten fassungslos hinterher und vernahmen nur noch ein lautes »Klock«, und das Türschloss war verriegelt. Unfassbar, unsere Lehrerin hatte sich gerade vor unseren Augen im Putzschrank eingeschlossen.
Das war eindeutig ein neuer Tiefpunkt in der Lehrer-Schüler-Beziehung unserer 10b, auf dessen Thron sich eigentlich seit Jahren ein Referendar namens Trottmann hielt, der bei einer Vorstellungsstunde einen Heulkrampf bekommen und sich in die geballte Faust gebissen hatte.
Doch nun saß Frau Löffler im Schrank und schien auch keine Anstalten zu machen, sich wieder aus dem Mobiliar zu entfernen. Für sie war es wohl eine Art pädagogischer Panic Room, für uns Schüler, die über das Verhalten von Lehrern meist so viel reflektierten wie ein Wattwurm über Platon, war es eher eine Einladung, früher nach Hause zu gehen.
»Geil, schon Pause«, freute sich Gökhan und spornte damit auch
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