Lebenslänglich Klassenfahrt: Mehr vom Lehrerkind (German Edition)
stehen, er winkte mir zu, als würde er mit einem Abschied für immer rechnen.
1984
Ich zappelte herum und fragte mehrmals, was er von mir wolle, doch Schmitz reagierte nicht und schmatzte, nur herum, als würde er auf seiner Zunge kauen. Wir gingen die granitgeflieste Treppe Richtung Erdgeschoss hinunter, an den holzvertäfelten Wänden hingen ausgeblichene Fotos von früheren Schülerausflügen. Zahllose Kinder winkten dem Betrachter zu, grinsten und machten ihre ersten Skiversuche, die allesamt auch nicht viel kunstvoller wirkten als das, was wir gestern fabriziert hatten.
Im Erdgeschoss angekommen, dirigierte mich Schmitz am Arm um eine riesige Lache aus weißer Farbe herum, anscheinend war hier vor Kurzem ein Maler von der Leiter gefallen. Die Hand immer noch schwer auf meiner Schulter, stieß er einen Raum auf, der die Bezeichnung »Portinaio« trug. Dahinter lag ein muffiger, kleiner Raum, der nach Zigarettenqualm und kaltem Kaffee roch. Abgesehen von der Größe, hätte es auch ein Lehrerzimmer sein können. Ein zerwühlter Schreibtisch und eine einsame Hydrokulturpflanze im Neonlicht, die schon vor Langem eingegangen war, komplettierten das Bild eines lieblosen Gesamtkonzepts. Sonst hausierten eigentlich nur die Ludolfs freiwillig in solch exorbitanter Tristesse.
Hinter dem Schreibtisch thronte Giuseppe, unser Liftbediener, Lebensretter, Macho und Wurmloch der guten Laune. Angestrengt starrte er auf einen kleinen Bildschirm, der in Schwarz-Weiß vor ihm flimmerte.
»Stronzo«, murmelte er und blickte kurz auf, um mich mit einem abfälligen Blick zu bedenken, der deutlich weniger wahllos war als seine bisherige Ablehnung, 100 Prozent pure Giuseppe-Abscheu, exklusiv nur für mich. Unser Schulterschluss und die Verbrüderung über chauvinistische Witzchen vom Vortag schien völlig vergessen zu sein, Giuseppes Laune war ausgeglichen wie die Ökobilanz von China.
»Da, schau nur hin!«, befahl Schmitz und schob mich einen weiteren Schritt in Richtung Bildschirm. Bisher sah man nur das Bild einer Eingangspforte, ein Prachtstück architektonischer Ideenlosigkeit, grauer Steinboden, der Absatz zur Haupttreppe, die Eingangstür am Bildschirmrand wippte ganz leicht im Wind und verwies darauf, dass dies ein Video und kein Standbild war. Langsam zeigte an der rechten Bildkante ein Timer Uhrzeit und Datum an, die Aufnahme war heute entstanden, besser gesagt, vor fünf Stunden, um 3:42 Uhr in der Nacht.
Plötzlich bewegte sich etwas im Bild, eine Tür schien sich außerhalb der Sichtweite geöffnet zu haben und ließ künstliches Licht in den Eingangsflur fallen. Dann klatschte aus dem Nichts eine ganze Eimerladung weiße Farbe auf den grauen Boden und zerplatzte zu einer grotesken Furchenlandschaft. Das Zeug floss umgehend in Richtung Eingangspforte. Langsam regte sich ein winziges bisschen Erinnerung in mir, wie ein minimaler Impuls durchzuckte es mich, doch bevor überhaupt ein Signal vom Gehirn zum Mund geleitet werden konnte, tauchte ein Umriss im Bild der Überwachungskamera auf.
Es war Herrn Schmitz’ tiefschwarzer Skianzug, selbst auf dem matten Bild des kleinen Fernsehers schimmerte das hochwertige Material noch edel. Dann setzte sich die Person in dem Skianzug in Bewegung, stieß sich mit zwei Skistöcken ab und glitt auf Skiern über die weiße Farbe, hin und her, immer genau im Blickfeld der Kamera.
Schon in der ersten Sekunde war mir klar, dass ich das war, den ich dort sah. Der ungelenke Gang, die unsachgemäße Anwendung der Skier, die Proportionen, die gar keinen Platz fanden in Herrn Schmitz’ Luxusanzug und sich bereits ganz offensichtlich einen Weg vorbei an Stoff und Reißverschluss gebahnt hatten. Ich quoll aus allen Ecken und Enden der Pelle hervor, ein DNA-Test war nach dem Videobeweis auf jeden Fall überflüssig.
»Stronzo«, sagte Giuseppe erneut und kaute dabei wütend auf einem Zigarettenstummel herum. Auch Herr Schmitz bemühte sich um Fassung und fixierte das Videobild wie einen Feind. Erbost zog er sein ganzes Gesicht zusammen, sein Schnurrbart schien dabei in Richtung Stirn zu wandern.
»Du Verbrecher«, stieß er daraufhin endlich hervor, während wir alle noch gebannt auf den Bildschirm starrten, auf dem ich weiterhin hakelig, aber seelenruhig meine Kreise in der weißen Farbe drehte. Schlagartig kehrten zumindest ein paar Erinnerungsfragmente zurück. Nachdem die Flasche auf mich gezeigt hatte, hatte ich »Pflicht« gewählt und damit eindeutig die falsche Wahl getroffen.
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