Lebenslänglich Klassenfahrt: Mehr vom Lehrerkind (German Edition)
Abständen einfror. Bildeten sich Eiskristalle am vorsintflutlichen Zahnriemen, musste ich mit einem riesigen Drahtbesen daran herumputzen.
Schmitz hätte mir natürlich keinen größeren Gefallen tun können, als mich vom Skifahren auszuschließen. Jetzt durfte ich die restlichen Tage der Klassenfahrt auf das monoton vorbeilaufende Liftseil starren und von Hanna Sommer träumen. Meine Schulkollegen hatten erst Mitleid, bald jedoch nur noch Neid für mich übrig, als sie am nächsten Morgen versuchten, mit ihrer puterroten Gesichtshaut wieder eine Skibrille aufzusetzen, und dann mit schmerzverzerrten Gesichtern an mir vorbei in Richtung Bergspitze sausten.
Als Hanna an mir vorbeistiefelte, warf sie mir einen Blick zu, den ich so noch nicht kannte. War das etwa ein Augenaufschlag? Sie schob verschüchtert eine Locke ihres Haars hinter ihr Ohr und nestelte kurz daran herum, während sie mir, dem Wächter des Tellerlifts, zusah. Irgendwas hatte ich mit meiner Zaziki-Aktion richtig gemacht, anscheinend war ich jetzt ein Outlaw, ein Wildling, jemand, zu dem man auf- und nicht herabschauen musste.
Die letzten Tage bei der Skiliftkette bildeten sicherlich nicht den spannendsten Zeitraum meiner Existenz, aber immerhin war das noch besser, als unter der Führung von Herrn Schmitz den Berg hinabgetrieben zu werden. Wenn sich Kemal abends gebückt wie ein alter Mann auf seine Matratze warf, ächzte er jeden Abend nur »Du Glückspilz« in meine Richtung.
Als wir die Rückfahrt antraten, verabschiedete sich Giuseppe von jedem von uns mit einer väterlichen Ohrfeige, der Abdruck seiner Hand leuchtete noch Stunden hellweiß auf den knallroten Gesichtern. Ich blieb verschont, auch wenn ich meinen Job als Liftwart halbwegs ordentlich ausgeführt hatte, spuckte er nur einmal aus, als er an mir vorbeiging. Als wir einstiegen, sahen wir auch Örnst wieder, der die Zeit unserer Skifahrt bei einer Seniorenreise verbracht hatte und dementsprechend gut gelaunt war, was hieß, dass er immerhin zufrieden grunzte, als er uns sah.
Herr Schmitz beobachtete mittlerweile jede meiner Bewegungen mit Adleraugen. Vorwurfsvoll wies er mich an, die restliche Rückfahrt neben ihm zu sitzen, damit ich »keinen Blödsinn machen konnte«. In seinen Augen war aus dem Störenfried seiner Sportstunden ein Topterrorist geworden, es fehlte nur, dass er mich mit Handschellen an sich festkettete. Also machte ich es mir neben ihm vorm Panoramafenster des Busses gemütlich, während er gelangweilt in einer abgegriffenen Ausgabe von Wild und Hund blätterte. Die anderen wankten langsam in den Bus, die Gesichter immer noch feuerrot, die Knochen am Berg zerrieben. Mona Bauerfeind konnte gar nicht schnell genug auf ihren Platz kommen und musste zur Beruhigung erst mal einen Butterkeks einwerfen.
Als Hanna den Bus bestieg, wirkte sie zwar unverändert schön, aber auch ihr sah man die Erschöpfung an, denn auf ihrer Gesichtshaut wellten sich ein paar Fältchen, die Haare waren achtlos zu einem Zopf gebunden. Ich nickte ihr gewinnend zu.
»Ja, Einzelhaft. Schwerverbrecher, Baby«, sagte mein Blick. Hanna lächelte wieder ihr zauberhaftes Lächeln – und das nur für mich!
Ich schaute ihr nach und sah, wie sie sich wider Erwarten nicht neben Mona Bauerfeind setzte, sondern stattdessen auf einem Einzelsitz Platz nahm. Plötzlich musste ich daran denken, wie verstörend Mona Bauerfeinds Frage bei unserem »Wahrheit oder Pflicht«-Spiel auf Hanna gewirkt hatte, wie Hanna Mona angesehen hatte, wie für einen Augenblick das Strahlen, das sie umgab, erloschen war, nur wegen einer Frage: »Hast du ein Geheimnis, das keiner kennt?«
Die Frage ging mir von da an nicht mehr aus dem Kopf.
Der Geschichtslehrer
Die Berufsgruppe der Geschichtslehrer ist der einzige Grund dafür, dass das braune Cordsakko noch nicht ausgestorben ist. Dieses Textilstück ist aber nicht das Einzige, was der Geschichtslehrer vor dem Aussterben bewahrt. Er ist ebenso Hüter eines generationenumspannenden Wissens, ein Bewahrer von Erinnerungen. Auch wenn im Dokumentarfernsehen jeden Tag mindestens fünfmal »Hitlers schönste Fliegerbomben« gezeigt werden und selbst das Popcornkino mithilfe eines muskulösen, braun gebrannten schwitzenden Brad Pitt als Achilles die »Ilias« für sich wiederentdeckt, wird das Wissen über unser Dasein als winzige Randnotiz im Gefüge der Zeit erst durch den Geschichtslehrer vermittelt.
Der Geschichtslehrer ist im pädagogischen Alltag eher eine Randerscheinung.
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