Lebenslänglich Klassenfahrt: Mehr vom Lehrerkind (German Edition)
bevor der Igel den Morgenschiss ins Beet vollendete, zur Schule quälen mussten. Vor neun Uhr war an geregelten Unterricht eigentlich nicht zu denken, die meisten Schüler saßen noch mit schlafbenetzten Augen auf ihren wackligen Pressholzstühlen und konsumierten erfolgreich Atemluft, zu einem Informationsaustausch zwischen Hirn und Außenwelt kam es nur im Einzelfall. Ähnlich war es bei den Lehrern, auch wenn viele schon zur ersten Stunde »volle Konzentration« einforderten, gab es ein unausgesprochenes Abkommen, dass der Lehrer die Schüler in der ersten Stunde nicht mit zu hartem Schulstoff zu belästigen hatte und die Schüler im Gegenzug schön entspannt stoffwechselten, anstatt ihren Frust über die urtümliche Zeit ihres Erscheinens am Lehrkörper auszulassen.
Meine Eltern hatten nach dreißig Jahren Schuldienst den immerwährenden Turnus ihres Aufwachens so stark verinnerlicht, dass sie das hohle WDR - 2 -Morgenfrühstücksradiogedudel, das mein Vater auf seinem Radiowecker eingestellt hatte, eigentlich gar nicht mehr brauchten, um pünktlich um 6:30 Uhr aus den Laken aufzuschrecken. Ich dagegen benötigte das morgendliche »hopp, hopp, hopp«, das mein Vater sich von Sportlehrer Schmitz entliehen hatte, um es zumindest bis ins Bad zu schaffen, ohne wieder schnarchend auf meinem Kinderzimmerboden zusammenzubrechen.
»Die KFZ-Steuer wird wieder erhöht«, brummte mein Vater in seine Zeitung, meine Mutter griff mechanisch zum Knuspermüsli.
»Vrdmmter Miiist«, hustete sie laut über die wortarme Tristesse unseres Frühstücks.
»Ja, das ist Mist, stimmt, Ingrid«, gab ihr mein Vater recht.
»Mmmmh, mine Plombe is’ wech«, verschluckte meine Mutter die Vokale und gleichzeitig wahrscheinlich auch ihre Zahnfüllung.
Mein Vater setzte die Kaffeetasse ab, Hektik war nicht gerade seine Paradedisziplin.
»Wirklich?«
»Wllklch!!!«, gurrte meine Mutter zurück, Verzweiflung schwappte langsam über ihr Gesicht, wahrscheinlich hatte sich gerade eine Rosine in den offenen Zahnhals gesetzt.
»Auaaa«, plärrte meine Mutter, sie hatte die Vokale wiedergefunden.
»Dann müssen wir zum Zahnarzt«, schlussfolgerte mein Vater eine simple Kausalkette und stand ohne übertriebenes Tempo auf.
»Wir nehmen dich auf dem Weg mit, es ist ja eh schon spät«, sagte er und schielte mit einem Auge auf die Küchenuhr.
»Rchtg«, spuckte meine Mutter, ich ging zum Kühlschrank und nahm ein Paket Spinat aus dem Tiefkühlfach, eingewickelt in ein Küchentuch, presste ich das Päckchen auf ihre anschwellende Wange.
Wir traten vors Haus, und surrend schob sich das Garagentor hoch, im nasskalten Muff zwischen Gartenhaken und Torfbeuteln lag das Papamobil, der taubenkotgraue Pädagogen-Passat meiner Eltern, auf dessen Rücksitz ich die letzten Jahre zur Schule kutschiert worden war. Der Wagen übte eine fast schon magische Abstoßung auf mich aus, mit dem dickmaschigen Polyester der Sitze verband ich einen eigenartigen Blick auf meine Außenwelt, wie ein Goldfisch, der in seinem Glas gekocht wird und trotzdem nicht rauskann.
Mutter war zu einem gleichtönigen Ächzen übergegangen, das nur zwischendurch von ein paar kurzen Sprechversuchen durchbrochen wurde, die sich aber in einem vogelartigen Gurren verloren. Mein Vater drehte den Zündschlüssel, der Wagen röchelte wie eine kettenrauchende Oma, blies eine beachtliche Abgaswolke gegen die Garagenrückwand und erstarb dann in einem säuselnden Knarzen.
Wieder drehte mein Vater den Schlüssel, der Anlasser tackerte wie ein Maschinengewehr, der Versuch, den Motor zu beleben, ließ den Wagen erzittern, doch bevor unser Antrieb einmal erleichternd aufröhrte, endete das Motorengeräusch wieder in einem kraftlosen Husten.
»Der geht nicht an …«, stellte mein Vater bei Beschau unseres Automobils fest, der Wagen hatte seine besten Zeiten lange hinter sich und nun im Rentenalter wohl beschlossen, dass es bei einer solchen Scheißkälte und Dunkelheit purer Irrsinn wäre, die Garage zu verlassen.
»Ochhhh neeee«, gurgelte meine Mutter an dem Paket Spinat vorbei, dass ich ihr mithilfe des Küchentuchs am Kopf festgebunden hatte. Sie sah ein wenig eigenartig aus, wie sie da mit dem Inhalt der Kühltheke an der Backe versuchte, ihr Missfallen zu formulieren.
»Was jetzt?«, fragte mein Vater rhetorisch, unsere Blicke trafen sich, und es wurde klar, dass unserem Trio Infernale noch viel größeres Unheil bevorstand, als bei arktischen Temperaturen in der Garage schockgefrostet
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