Lebenslänglich Klassenfahrt: Mehr vom Lehrerkind (German Edition)
Zeitschrift.
»Was soll nur immer dieser Blödsinn mit dem Tomatensaft«, zischte ich Patrick zu. »Nur weil man in einem Flugzeug sitzt, muss man doch nicht anfangen, Ketchup ohne Zucker zu trinken!« Die Frau hinter uns hustete betreten.
»Wenn man mit einem U-Boot abtaucht, bestellt man doch auch nicht plötzlich Saumagen mit Schokosoße«, ereiferte ich mich weiter, als würde sie damit gegen die Genfer Konventionen verstoßen.
Im Prinzip war mir völlig egal, ob die anderen Passagiere nun Tomatensaft oder Tapetenkleister tranken, ich brauchte einfach nur ein Ventil für meine Angst und fragte mich, warum ich mich schon zum zweiten Mal auf diesen Trip eingelassen hatte. Der Anlass für unsere erneute Reise ins Oblast Rostow war die große Liebe. Nur ging es diesmal nicht um meine große Liebe, sondern um die von Sergej, dem Gastgeber unseres ersten Aufenthalts und Blutsbruder meines Vaters. Na ja, eigentlich waren sie nicht wirklich Blutsbrüder geworden, mein Vater hatte damals abgelehnt, nachdem sich Sergej in die Hand gesägt und martialisch das halbe Wohnzimmer vollgeblutet hatte. Aber das Band zwischen den beiden Männern war trotzdem so eng, zumindest auf Sergejs Seite, dass er uns vor einigen Wochen zu seiner Hochzeit eingeladen hatte.
Natürlich hatte mein Vater sofort höflich aber bestimmt abgelehnt. Allerdings hatte Sergej seitdem täglich angerufen. Mehrmals. Abzusagen war bei russischen Hochzeiten anscheinend keine Option, außer dem Tod gab es keine Entschuldigung, die Sergej hätte gelten lassen. Als uns dann ein paar Wochen später unkommentiert vier Flugtickets zugestellt wurden, ergab sich mein Vater und flehte meine Mutter und mich inständig an, mitzukommen.
Dass Sergej vier Tickets geschickt hatte, resultierte aus der Annahme, ich müsse im zeugungsfähigen Alter von siebzehn Jahren bereits über eine Freundin verfügen. Wenn er die traurige Wahrheit über mein Liebesleben gekannt hätte, wären meinem Flugticket wahrscheinlich eher Flyer einer russischen Partnervermittlung beigelegen.
Und wer weiß, vielleicht gab es in Russland ja tatsächlich ein Mädchen, das auf dermale Trümmerwüste stand?
Als ich Patrick vorschlug, uns nach Russland zu begleiten, hatte er sofort zugesagt. Ob es bei Patrick Spontanität oder Gedankenlosigkeit war, konnte ich nie sagen. Während ich so lange alle Eventualitäten gegeneinander abwog, bis sich die Gelegenheit von selbst erledigt hatte, brauchte er für eine Entscheidung nicht mal lang genug, um überhaupt zweifeln zu können. Er sagte einfach immer erst mal »Ja« zu allem, mit voller Kraft, ohne Zweifel. Selbst wenn ich ihm von unserem Beinaheabsturz vor zwei Jahren erzählt hätte, wäre er wahrscheinlich mit einem »wird schon nicht so schlimm« grinsend und voller Zuversicht ins Flugzeug gestiegen.
»Chello Lädis änd Chentlemän, we wälcom you on borrrd”, stammelte unser Flugkapitän in diesem Moment durch den Deckenlautsprecher, was auf mich nicht sehr vertrauenserweckend wirkte.
»Den versteht doch keiner im Tower«, sagte ich mehr zu mir selbst.
»Nein, Englisch können die Russen wirklich nicht«, murmelte mein Vater nur und kritzelte weiter auf der Sicherheitsbeschreibung herum.
»Im Tower sind bei der Ankunft doch auch nur Russen«, lachte Patrick und beruhigte mich mit dieser Schlussfolgerung zumindest ein wenig. Vielleicht setzte aber auch langsam die Jahrespackung Diazepam ein, die ich mir noch auf dem Gate unter Zuhilfenahme einer Flasche Cola runtergewürgt hatte.
»Kinder, wir haben gerade Krakau überflogen«, surrte mein Vater und deutete auf die pixelige Europakarte, die auf dem kleinen Bildschirm über unseren Köpfen blinkte. Dort ruckelte ein lächelndes Comicflugzeug über die grüne Landkarte, gerade segelten wir also irgendwo über Polen herum.
»Von dieser Stadt leitet sich der Name der berühmten Wurst ab, Bastian. Allerdings ist die Krakauer nur in Deutschland eine Bratwurst, in Polen wird sie als Aufschnitt zum Frühstück gegessen«, dozierte mein Vater im genetisch programmierten Pädagogenduktus. Hoffentlich hielt er nicht gleich noch einen Vortrag über Pasteurisierungsverfahren oder Schweinemast. Mein Vater war Bildungsfernsehen auf Beinen, nur leider konnte man bei ihm niemals umschalten.
»Ist mir doch völlig egal!«, motzte ich genervt und starrte auf die kleinen Männchen in der Sicherheitsbeschreibung, die grinsend ihre Köpfe zwischen ihre Knie drückten und glücklich auf den Aufprall
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