Lebenslänglich Klassenfahrt: Mehr vom Lehrerkind (German Edition)
Pürierstab in den Schädel gerammt, auch wir anderen waren versunken in die Erlebnisse der Walfänger, in die Stimme unseres Lehrers, in das Buch als Erlebnis. Wir blieben einfach sitzen. Normalerweise hätten selbst einzementierte Füße uns nicht aufgehalten, doch heute war etwas passiert, was keiner nach den Jahren unter Frau Seckbach, in denen man froh sein konnte, wenn die Lehrerin nicht vor uns auf dem Pult einschlief, für möglich gehalten hatte: Wir waren begeistert von einem
Buch
.
Natürlich musste Herr Wolke sich auch an Lehrpläne halten, war den absurden Regeln eines Gymnasiums unterworfen und manchmal schwer genervt von der immer wieder aufblitzenden Ahnungslosigkeit seiner Schüler, die sich in so schönen Sätzen wie »Der Kafka war doch auch nur so ’n kaputter Hansel« niederschlug.
Herr Wolke war das, was ein Lehrer sein sollte, ein Inspirator, ein Begeisterter, der imstande war, seine Begeisterung zu teilen.
Auch wenn das Ergebnis nicht immer optimal war (zum Beispiel trug Gökhan bei einem Gedichtwettbewerb mal etwas Selbstverfasstes mit dem Titel »Wenn die Bitches Schleier tragen« vor), hatte Herr Wolke doch eines vollbracht: Diesen Montagmorgen, an dem plötzlich Captain Ahab, ein weißer Wal und die magische Welt der Literatur in unserem müffeligen Klassenzimmer zu Gast waren, würden wir nie vergessen.
Rückkehr in Mütterchens Schoß
»Hast du etwa Angst?«, fragte Patrick verwundert und starrte auf meine klatschnasse Stirn, die ich unablässig mit einer kleinen Serviette abtupfte, die dem Begrüßungsgetränk beigelegen hatte. Aus dem Aeroflot -Logo war bereits ein schweißgetränkter, unidentifizierbarer Farbbrei geworden, hektisch nippte ich am schalen Wässerchen.
»Ich, Angst? Nö«, winkte ich ab. »Angst« war nicht das richtige Wort, für das, was ich gerade empfand. »Alles umfassende Todesfurcht« oder »seelische Götterdämmerung« erschienen mir da passender.
Hektisch blickte ich um mich und konnte zu meiner Beruhigung feststellen, dass sich der Fall des Eisernen Vorhangs positiv auf die Gegebenheiten der russischen Staatsfluglinie ausgewirkt hatte. Wo uns zwei Jahre zuvor noch eine kakaobraune Maschine im Antiklook empfangen hatte und der Pilot während des Flugs über den Bordlautsprecher die Passagiere nach Werkzeug gefragt hatte, wirkte diesmal alles halbwegs zeitgemäß. Die braune Innenverkleidung war einem nüchternen grauen Plastik gewichen, es dominierte die neue Sachlichkeit, man hätte fast glauben können, halbwegs sicher zu sein.
Auch meine Mutter war nicht ganz entspannt und nestelte hektisch an ihrem Sicherheitsgurt herum.
Seit wir bei unserer letzten Russlandreise in die Sowjetmetropole Rostow fast über der russischen Tundra abgestürzt waren, hatten wir beide eine gewisse Abneigung gegen das Fliegen entwickelt. Selbst mein Vater, der sonst den Ruhepuls eines Bimssteins besaß und normalerweise nicht mal durch einen Atompilz am Horizont zu verunsichern war, schien leichtes Unwohlsein zu verspüren. Als die Maschine auf die Startbahn rollte, griff er zu den Sicherheitsbeschreibungen, die vorschriftsgemäß neben den Kotztüten an der Rückseite des Vordersitzes angebracht waren.
Aber Moment … er studierte nicht etwa die Lage der Notausgänge. Er korrigierte!
»Du korrigierst das doch nicht … oder?«, fragte ich ihn entgeistert, während er kopfschüttelnd versuchte, die Fehler auf dem laminierten Papier anzustreichen.
»Schau dir das mal an. He, she, it – das S muss mit. Davon haben die anscheinend noch nie was gehört«, empörte er sich und kratzte mit dem Kuli weiter auf dem Infozettel herum. Sein Korrekturzwang war offensichtlich bilingual ausgelegt.
Damit ich bei diesem Trip nicht wieder ganz allein in den Genuss der transkontinentalen Bildungsreise kommen musste, hatte ich durchgesetzt, Patrick einladen zu dürfen. Nachdem der mich im Krankenhaus bei Dr. Stöwer als Heimkind angemeldet hatte, waren sie zwar eine Weile nicht gut auf ihn zu sprechen gewesen, mussten ihre Meinung aber revidieren, wenn sie nicht wollten, dass ich mich in Zukunft mit imaginären Freunden umgab.
Patrick hatte meine Körpersprache schon ganz richtig interpretiert: die linke Hand in die Armlehne gekrallt, die rechte leidend an den Kopf gedrückt, machte ich eher den Eindruck, als würde ich gerade ein Elefantenbaby gebären.
»Einen Tomatensaft bitte!«, orderte die grotesk geschminkte Frau hinter uns und blätterte dabei gelangweilt in ihrer
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