Lebenslänglich Klassenfahrt: Mehr vom Lehrerkind (German Edition)
mitbrachte, musste man in Russland damit rechnen, einen in Geschenkpapier eingerollten weißen Tiger überreicht zu bekommen, der spätestens nach dem Auspacken zum Problem wurde. Beim letzten Besuch hatte mein Vater fast einen internationalen Zwischenfall ausgelöst, weil er einen Bildband über das Ruhrgebiet, den Sergej als Geschenk höflich ablehnte, einfach wieder in sein Reisegepäck tat, woraufhin die gesamte Familie Lokosimov pures Entsetzen äußerte. Diesmal waren wir vorbereitet und überreichten eine extraklobige Kuckucksuhr und ein Nussknackerehepaar, das aussah, als hätte man Ivan Rebroff und Stefanie Hertel mumifiziert. Zudem setzte mein Vater einen symbolischen Meilenstein der Völkerverständigung, als er feierlich ein Stück der Berliner Mauer übergab. Der Westen und der Osten waren hier und heute, am Flughafen von Rostow endlich wieder vereint, eine lange Trennung aufgehoben durch ein Stück Mauer, dass bildlich für alles stand, was vorher trennte und nun verband.
Zum Glück ahnte keiner, dass das Mauerstück in Wirklichkeit ein halber Backstein aus dem Vorgarten meiner Oma war – aber es zählte ja die Geste. Sergej brach sofort in Tränen aus, selbst Ivan bekam feuchte Augen, während er immer noch das Deutschlandlied in Endlosschleife in seine Trompete pustete.
»Das ist mein Värlobte Ludmilla«, setzte Sergej die Begrüßungszeremonie schließlich fort und enthüllte hinter sich eine Dame, die entfernt an Marilyn Monroe erinnerte – vierzig Jahre später wieder ausgegraben. Ludmilla war ein kleines, fleischiges Wesen mit schlechter Blondierung, das augenscheinlich die zehn besten Schminktipps von Harald Glööckler beherzigt hatte. Ihr freundlich lächelndes Gesicht lag unter einer Schicht Schminke, dick wie Permafrost. Als die kräftigen Arme der dicken Ludmilla sich um den Hals meines Vaters schlossen, konnte ich sehen, wie er versuchte, die Knie durchzudrücken um das Gleichgewicht zu halten.
Ihr Parfüm trieb uns die Tränen in die Augen, jetzt heulten auch wir, was von Sergej mit einem begeisterten Zücken der Wodkaflasche quittiert wurde.
Tipp 3: Trinke mit, Wodka tötet nicht, er macht nur härter!
Das Vorurteil, dass alle Russen zu jedem Anlass Wodka trinken, gehört in die Welt von Märchen und Mythen, denn ein Anlass zum Saufen ist eigentlich nicht vonnöten.
Betreten starrte ich auf Ivans Selbstgebrannten, so etwas verwendete man sonst, um Leichen zu plastinieren oder Brennstäbe abzukühlen, der menschliche Organismus war auf den Alkoholgehalt des Gebräus nicht ausreichend vorbereitet, es sei denn, man trank vorher eine Haushaltskerze.
Ergeben beugte ich mich meinem Schicksal und schloss mich Patrick an, der schon das zweite Glas hinabstürzte. Das leere Glas zitterte in meiner Hand und dort, wo zuvor noch ein Hals und eine Kehle die Verbindung vom Kopf zum Körper bildeten, befand sich nur noch ein ausgefranstes Ofenrohr. Bevor mir die Mischung aus Diazepam, Cola und Sergejs Teufelstropfen aus allen Enden schießen konnte, drückte mir Patrick schon das nächste Glas in die Hand.
»Nastrovje«, hallte es durch das riesige Flughafengebäude. Ich war schon am Ende, während unsere Reise noch ganz am Anfang stand. Das konnte was werden, dachte ich.
Red Dawn
Nach einer pittoresken Fahrt durch schier endlose Wälder erreichten wir Sergejs Zuhause. Ein paar vereinzelte Häuser waren zu sehen, grünbraune Berge und ein Horizont, an dem sich ein paar einsame Wolken verloren. Die ganze Umgebung wirkte, als wäre der Eiserne Vorhang umgestürzt und hätte dabei alles Leben erschlagen.
»Alles viel bessar cheute … nix Räuber«, stellte Ivan trocken fest und deutete auf den Straßenrand. Eine wahre Feststellung, keine Spur irgendwelcher Unsympathen mit Kalaschnikows, nur ein paar Straßenhunde waren zu sehen, die neben uns herliefen und um Futter oder Menschenfleisch bettelten.
Beim Eintreten vermisste ich sofort die Geräuschkulisse von Opa Alexej.
»Ist im Chimmel«, sagte Sergej beim Blick auf die freie Sofaseite, auf der der alte Mann mit seinem piepsenden Lungenautomaten immer wie eine wandelnde Elektrodisco geklungen hatte.
Sergejs Wohnung hatte sich durch den weiblichen Einfluss von Ludmilla stark verändert. Ludmilla hatte aus der graubraunen Höhle mit Wandteppichbehang einen ekstatischen Albtraum in Flamingorosa gemacht, alles war mit pinkem Plüsch oder Frotteebezug ausgestattet worden, eine Armee von Teddybären saß aufgereiht auf der Sofalehne.
Im
Weitere Kostenlose Bücher