Lebenslänglich Klassenfahrt: Mehr vom Lehrerkind (German Edition)
hergeschwungen. Dabei wurde jedes Mal, wenn der Kopf des Mannes unter dem Brautkleid verschwand, vom gesamten Publikum »Kuckuck-Kuckuck« gerufen.
Ich sah wie Patrick langsam kleiner wurde und sein Kopf an der Tischkante abwärts wanderte, ich konnte es ihm gerade noch gleich tun und mich verstecken, bevor der Zonk unseren Tisch passierte und meinen Vater auf Aufforderung von Onkel Nikita an sich zog. Wenige Augenblicke später wurde mein westfälischer Musterpädagogenvater von verkleideten Russen mit dem Kopf zwischen die Beine der kräftigen Ludmilla gerammt, während das gesamte Publikum laut »Kuckuck« brüllte. Meine Mutter brüllte am lautesten, daneben Onkel Nikita, der mich und Patrick erst mal zwang, etwas auf unseren mutigen Vater zu trinken und eloquent »Deutscheland supadupa« feststellte. Langsam sah ich bei Patrick ein leichtes Schielen einsetzen, bei mir hatten sich bereits sämtliche Neuronen in den Pogo begeben. Mein Vater nahm wieder Platz, sein halber Anzug war aufgerissen, die Haare zerzaust und er war angemessen verstört.
Plötzlich zog Onkel Nikita ein dickes, glänzendes Messer aus seinem Socken und rammte es lachend in den Tisch. Wenn es ein Codewort zur Evakuierung gegeben hätte, wäre es nun zum Einsatz gekommen, doch leider blieb uns nichts anderes übrig, als auch diese Vorführung über uns ergehen zu lassen. Mehrmals streckte Nikita uns seine haarige Pranke entgegen und zeigte auf seine wurstigen Fingerchen, dann knallte er die Hand auf den Tisch und rammte das Messer mit einer rasenden Geschwindigkeit in die Tischplatte zwischen seinen Fingern. Sein Nicken in unsere Richtung sollte wohl heißen, dass wir die nächsten sein würden, deshalb setzten Patrick und ich uns vorsorglich auf unsere Hände. Faszinierend, wie kunstfertig es Onkel Nikita trotz der beachtlichen Menge Wodka schaffte, das Messer zwischen seinen Fingern hin und her springen zu lassen, ohne sich zu verletzten, dachte ich – bis er sich das Ding genau eine Sekunde später in die Hand rammte.
Patrick und ich starrten ihn fassungslos an, doch Onkel Nikita zog sich nur die Klinge aus dem Fleisch und lachte laut. Wir hatten die letzten Stunden also mit einem russischen Cyborg gezecht.
Zum Glück wurden wir von einer plötzlichen Musikeinspielung unterbrochen, bevor Onkel Nikita noch auf die Idee kam, Messer zu werfen oder mit Kettensägen zu jonglieren.
Sergej und Ludmilla tanzten den ersten Tanz des Abends und die rührende Romantik, die der dargebotene Walzer verströmte, machte sogar den Nutztierzoo und das Moderatorenduo vergessen. Mein Vater war zwar nach seiner Verwendung als menschliche Glocke noch ein wenig steif, trotzdem schauten wir alle gerührt auf das Brautpaar, das zu russischer Folklore im Dreivierteltakt tanzte.
Ich musste wieder an Hanna denken, als ich Sergej und Ludmilla sah, wie sie da eng umschlungen auf der Tanzfläche standen. Jetzt war ich tausende Kilometer weg, hatte meiner Flugangst getrotzt und trotzdem verfolgte mich Hanna immer noch. Da half nur noch ein Hirnzellenbremser aus Onkel Nikitas Vorrat.
»Deutscheland … DEUTSCHELAND!«, brüllte auf einmal der Zonk und es richtete sich wiederum alle Aufmerksamkeit auf uns. Sergej und Ludmilla traten auf uns zu und führten uns auf die Tanzfläche.
Der Zonk kündigte irgendetwas an, was, auch wenn man kein Wort verstand, sofortiges Unwohlsein auslöste.
»Ihr dürft Tanzefläche eröffnen ... mit Spezialmusik, mit deutsche Folklore«, sagte Ivan freudestrahlend.
Diese Ankündigung reichte, um jeden meiner Körperteile in Alarmzustand zu versetzen. Tanzen war seit jeher der Feind eines dicken Kindes, egal was da jetzt an Blasmusik kam, ich würde mich einfach totstellen.
Doch Blasmusik war es nicht, was andernorts unter deutscher Folklore verstanden wurde. Es kam viel, viel schlimmer …
»Cheri Cheri Lady«, kreischten uns Thomas Anders und Dieter Bohlen entgegen, die deutschen Nichtmusiker von Modern Talking galten in Russland also als deutsche »Volksmusik«, ein Umstand der wahrscheinlich 99 Prozent der Bundesbürger die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätte.
Meine Eltern standen reglos da und schauten mich und Patrick verzweifelt an, für diesen worst case hatte selbst mein Vater mit seinen Survivaltipps keinen Ratschlag parat. Modern Talking war so weit weg von meinem Musikgeschmack entfernt wie eine Schildkröte vom Fliegen. Selbst mein Vater mit seiner endlos großen Schallplattensammlung hätte lieber einen
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