Lebenslänglich Klassenfahrt: Mehr vom Lehrerkind (German Edition)
Anblicks anscheinend ab einem bestimmten Punkt nur noch selbst bekellnert hatten.
Dahinter erblickte ich meine Mutter, die meinem Vater vom Boden aufhalf. Dafür, dass meine Eltern ein paar Jährchen älter waren als Patrick und ich, hatten sie sich erstaunlich gut gehalten. Ich winkte ihnen zu und spürte schon bei dem Versuch, meine Hand zu heben, einen so formidablen Kopfschmerz, dass ich auf weitere Bewegung gekonnt verzichtete und versuchte, eine bequeme Stellung auf Patricks Tisch einzunehmen, auf dem ich die restlichen fünf Tage unserer Reise verbringen wollte.
Doch leider kam es nicht dazu, weil Onkel Nikita uns heimsuchte und mir »Deutscheland supadupa« für meine gestrige Performance attestierte. Wie aus dem Nichts tauchten auch Sergej und Ludmilla auf und boten uns gut gelaunt und frisch geduscht heißen Kaffee an. Mit großen Augen schauten wir sie an, hätten sie bei der ganzen Veranstaltung nicht die mit der einprägsamsten Nahtoderfahrung sein müssen?
Stattdessen präsentierten sie sich aufgeräumt und bewirteten uns nach bester russischer Tradition, wie uns der ebenso desolate Ivan erklärte, der sich zuvor aus einer Ecke des Raums geschält hatte. Dass neben dem Kaffee ein kleines Gläschen mit Wodka stand, ignorierten wir geflissentlich. Umso besser für Onkel Nikita, der anscheinend nicht geboren sondern destilliert worden war, anders war nicht zu erklären, wie der kleine Mann mit den Hosenträgern jetzt schon wieder so einen Durst haben konnte.
»Deutscheland supadupa«, sagte er und prostete uns zu.
»Und Bielendorfers, waar schön?«, fragte Ivan rhetorisch, man hatte nicht das Gefühl, dass irgendeine andere Antwort als »Ja« gelten würde. Wir nickten, so stark es der Kopfschmerz zuließ, nur mein Vater traute sich zu fragen, ob alle Hochzeiten in Russland so gefeiert würden.
»Waaas?«, fragte Ivan schockiert. »Nein! Das waar garrrnichts. Sonst ist nicht so langweilich. Heute Abend machen wir besser!«, sagte er und genehmigte sich mit Onkel Nikitia einen kleinen Muntermacher.
Eine Bildungsreise endet nie
Wir hielten Ivans Worte für einen Scherz, doch die Realität belehrte uns schnell eines Besseren. In Russland gab es keine Zeit der inneren Einkehr nach so einer Orgie, keine Möglichkeit sich zu sammeln, sich neu zu sortieren, sich in Abstinenz zu üben und höchstens eine Salzgurke und einen Rollmops zu sich zu nehmen.
Stattdessen dauerte die Hochzeit weitere fünf Tage, fünf Tage in denen gefressen, gesoffen und jeden Abend aufs Neue das Œuvre von Modern Talking zu unseren Ehren dargeboten wurde, erschreckend, wie viel Folter für Ohren und Hirn diese Band verbrochen hatte.
Nach fünf Tagen standen wir dann wieder am Flughafen. Mein Vater sah um Jahre gealtert aus, seine Schläfen waren leicht ergraut und auch seine Gesichtsfarbe ging immer mehr ins monochrome. Meiner Mutter ging es nicht besser, sie hatte zwar am Vorabend Migräne vorgetäuscht, was aber nur für ein kurzes Verschnaufen zwischen »You’re my heart, you’re my soul« und »Brother Louie« ausreichte. Patrick und ich sahen trotz unserer Jugend aus, als hätten wir einen Monat am Ballermann auf der Bassbox geschlafen, mein bester Freund stützte sich an meiner Schulter ab, während wir beide versuchten, die Koffer mit etwas Würde durch die Abflughalle zu ziehen.
Die nimmermüden Lokosimovs hatten auf unsere äußerste Bitte hin nur das kleinstmögliche Komitee zu unserer Verabschiedung geschickt: Ivan, Sergej und Ludmilla deckten uns nun wieder mit einer Myriade an Körperlichkeiten ein, die nach zahllosen Verbrüderungsschnäpsen auf der Hochzeit aber kaum noch Widerwehr provozierten. Auch Ivans Todestrompete blieb im Halfter – als er sie gerade ansetzen wollte, um wahrscheinlich irgendetwas von Scooter oder den Scorpions zu blasen, hob meine Mutter so unmissverständlich die Hand, dass selbst Ivan, der sensibel wie ein Wackerstein war, verstand.
»Nächstes Jahr ich cheirate auch, dann wir machen ein richtige Party, ihr seid Ehrenchäste«, drohte Ivan, was mein Vater bewusst überhörte und von meiner Mutter mit einem »Wir werden sehen« und einem sehr doppeldeutigen Blick in unsere Richtung kommentiert wurde.
Als wir die Gangway hochkletterten, unsere russischen Freunde hinter uns immer kleiner wurden und schließlich ganz aus unserem Blickfeld verschwanden, sah ich ein wenig Wehmut im Gesicht meines Vaters aufkeimen.
»Eine Woche Russland und wir haben nichts gelernt«, murmelte er
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