Lebenslänglich Klassenfahrt: Mehr vom Lehrerkind (German Edition)
Tonträger mit Dieselmotorengeräuschen in sein Regal gestellt als eine LP dieser Vokuhila-Kapelle.
Dementsprechend gering war auch unser Bewegungsspektrum, mein Vater wippte ein wenig apathisch von einem Fuß auf den anderen, während meine Mutter verzweifelt in die Hände klatschte, als würde sie gerade anderen Leuten beim Tanzen zujubeln. In den Augen meiner Eltern konnte ich einen stillen Generationenvertrag aufflammen sehen, dass diese Episode unseres Lebens für immer in Russland bleiben, auf ewig in den Orkus peinlicher Erinnerung verdrängt würde. Selbst Patrick hatte ich noch nie so fassungslos gesehen, seine sonstige Souveränität war auf Molekülgröße zusammengeschrumpft.
Mein einziger Trost war, dass Hanna mich jetzt nicht sah, und ich entschied mich spontan dazu, meine Familie zu retten.
Während Föhntolle Thomas Anders seifig seine Beleidigung der englischen Sprache in den Saal sülzte, begab ich mich in die Hocke, verschränkte die Arme vor meiner Brust und versuchte mich halbwegs an das Bewegungsmuster zu erinnern, dass Sergej mir zwei Jahre zuvor eingebläut hatte.
Ich bot eine sehr mitleiderregende Version von Kasatschok dar, dem russischen Volkstanz, bei dem mein Oberkörper steif wie ein Brett blieb, während meine Beine ruckartig nach vorne schnellten. Einen kurzen Augenblick verharrte das russische Publikum, das Klatschen setzte aus und ich war mir sicher, dass ich jetzt sofort für den Missbrauch eines nationalen Kulturguts gelyncht werden würde.
Doch die Russen waren gnädig, ein Sturm aus Applaus und Jubel setzte ein, der meiner Familie und Patrick die kurze Deckung bot, von eigenen, unbeholfenen Tanzbewegungen zu meinem Beklatschen überzugehen, Dankbarkeit zeichnete sich in ihren Gesichtern ab.
»Deutscheland supadupa«, schrie Nikita, stürmte ebenfalls auf die Tanzfläche und stimmte in meinen Kasatschok ein. Der Wodka, der bei uns Deutschen zu motorischen Ausfallerscheinungen führte, füllte bei Onkel Nikita den Akku wohl erst richtig auf, jetzt fehlte nur noch, dass er einen Salto schlug und breakdancte.
Das tat er dann zwar auch noch, allerdings war dieser Anblick bei mir bereits einem satten Schwarz gewichen. Prost.
Hartes Erwachen
Irgendwie war die Couch heute noch härter als am Vortag, dachte ich und ließ meine Zunge durch meinen Mund wandern, der sich anfühlte, als wäre er mit Kunstrasen ausgelegt. Als ich die Augen öffnete, sah ich nur die Maserung von Holz, ich hatte die Nacht offensichtlich unter dem Tisch für die »cheuropäischen Gäste« verbracht.
Ich kletterte unter dem Tisch hervor und blickte auf die Überreste des Festsaals, der aussah, als hätte man ihn bombardiert. Alles lag in Schutt und Asche, die Tische waren umgekippt, Essensreste klebten an der Wand und auf der Tanzfläche bewegte sich noch ein einzelnes Männlein von einem Fuß auf den anderen.
Es war Onkel Nikita, er hielt eine halb aufgegessene Makrele in der Hand und tanzte mit geschlossenen Augen zu »Losing my Religion« von R.E.M.
Ich musste tot sein oder noch schlafen, das konnten nur die Hölle oder ein Traum sein, dachte ich und ließ mich dann aber von meinem schmerzenden Körper davon überzeugen, dass ich doch am Leben und wach war. Mein Kopf fühlte sich an wie ein Autobahnkreuz, das Donnern von Motoren und das Aufblitzen von Lichtern war das einzige, was ich außer Onkel Nikitas Verrenkungen und seinem wackelnden Po wahrnehmen konnte. Neben mir gab Patrick ein Lebenszeichen von sich, irgendetwas zwischen Furzen und Gähnen. Er schaute mich schlaftrunken an, durch seinen Kopf schien die gleiche Lkw-Kolonne zu fahren, wie durch meinen.
»Oh mein Gott«, ächzte er und ließ seinen Arm kraftlos von der Tischplatte fallen, auf der er übernachtet hatte. Dieser Abend hatte uns einiges an Hirnmasse gekostet. Irgendwann war alles außer Kontrolle geraten, Patrick und ich hatten mehrere Volkstänze von Sirtaki bis Schuhplattler vergewaltigt und dann angefangen, uns gegenseitig mithilfe eines Filzstifts zu dekorieren. Deshalb hatte mein Freund jetzt auch eine aufgemalte Augenklappe und einen Salvador-Dalí-Bart, der ihm gar nicht mal so schlecht stand.
Wo waren meine Eltern? Das Letzte, an das ich mich erinnerte, war, wie Onkel Nikita versucht hatte auf meinem Vater zu reiten, während »Geronimo’s Cadillac« lief.
In der Ferne konnte ich undeutlich ein paar Gestalten erkennen, die meisten waren die mit Perücken und Frauenkleidern bestückten Cousins, die sich ob ihres
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