Lebenslänglich Klassenfahrt: Mehr vom Lehrerkind (German Edition)
Krawatte enger, als müsste er ein mechanisches Ventil zuschrauben, um Druck aufzubauen. Seine Hand malte weite Kreise in die Luft, folgte dem imaginären Verlauf von Ergebnissen der Pisa-Studie und fuhr dann immer wieder ans Rednerpult, um sich an besonders bedeutsamen Stellen seiner Rede darauf abzustützen.
Von der Seite konnte ich meinen Vater sehen, wie er dort ungelenk auf dem Klappstuhl saß, die Arme vor der Brust verschränkt, den Kopf leicht angehoben, seinen Blick wie gebannt auf den neuen Schulleiter gerichtet. Ein leichtes Kopfschütteln war zu erkennen, am liebsten hätte er wahrscheinlich eine Packung roter Stabilos geworfen und »Buh« gerufen.Mein Vater war alles andere als ein Karrierist, sein Ideal war Bildung, nicht die Maximierung von Gewinn und Minimierung von Kosten, er war frei von Parteidenken und Wirtschaftlichkeitsinteressen, wie der pomadige Gordon-Gekko-Verschnitt sie dort gerade auf der Bühne in die Luft malte.
Mein Vater sah mich an, und ich wusste, dass unsere Gedanken sich die Hand gaben, das würde weder für ihn noch für mich ein Spaß werden. Herr Sommer hatte eine gepresste, unangenehme Stimme, die zwar gleichwohl eingängig war, aber auch in den Ohren zu brennen schien. Auch wenn er sich für Herrn Lobes nette Einleitungsworte bedankt hatte, ließ er keinen Zweifel daran, dass es im Sinne der »adäquaten Zukunftsplanung« zu einer Neustrukturierung kommen müsse, die schon zu lange überfällig sei. Die Übersetzung dessen trieb ein wenig den Glanz aus Herrn Lobes Gesicht, da die nur schwach kaschierte Kritik letztlich auf seinen Führungsstil zurückzuführen war, den Herr Sommer als »altertümlich« bezeichnete.
Wieder drehten sich alle zu Hanna um, diesmal ein bisschen anklagender, was sie uns denn dort für einen Reformator vorgesetzt hatte, doch ihr Gesicht blieb ebenso wie ihr Lächeln stumm.
»Einiges wird sich ändern …«, sagte Herr Sommer zum Abschluss seiner Rede, bevor er den Pro-forma-Applaus entgegennahm und von der Bühne trat. Wir glaubten ihm alle sofort.
Die Abschlussfahrt
Hanna Sommers Vater hatte nach seiner Antrittsrede Wort gehalten. Vieles hatte sich seitdem geändert, und nicht nur wir Schüler schienen unter der härteren Gangart seines Führungsstils zu leiden. Hitzefrei war abgeschafft worden (mein Vater erzählte, Herr Sommer habe in seinem Büro ein Thermometer, das immer konstant 23 Grad anzeigte, egal, ob es draußen schneite oder die Sonne schien), die Lehrer mussten ebenso wie die Schüler bereits am ersten Fehltag ein Attest vorlegen (was Vertretungsstunden fast überflüssig machte, da kaum noch ein Lehrer fehlte), und die Nutzung neuer Medien wurde verpflichtend, selbst für Lehrer, die ihre Klausuren zuvor noch auf Schiefertafeln gemeißelt hatten. Mitleiderregende Gestalten wie Frau Storchler, eine kleine Frau mit zerzausten Haaren und einer stets schief sitzenden Lesebrille, die seit Jahren Physik in der Oberstufe unterrichtete, mühten sich jetzt mit Laserpointern vor PowerPoint- Präsentationen ab und mussten nach jeder Unterrichtsstunde erst mal eine Schachtel Ernte 23 plattmachen, um den Stress zu kompensieren.
Von uns traute sich keiner, Hanna auf ihren Vater anzusprechen, nur manche Lehrer betonten ihren Nachnamen bei der Überprüfung der Anwesenheit mittlerweile mit einer gewissen Bitterkeit.
Auch mein Vater musste immer husten, wenn er den Namen unseres neuen Schulleiters aussprach, so, als würden sich seine Stimmbänder gegen diesen unerträglichen Reformator versperren, das größte Übel seiner bisherigen Schulkarriere. Genervt tippte er auf dem neu angeschafften »Personalcomputer« (mein Vater benutzte schon aus Prinzip keine Abkürzungen) herum, der jetzt im Arbeitszimmer fleißig piepte, auch er hatte sich dem Dekret der Modernisierung gebeugt. Meinen Versuch, ihm eine Einführung in die Computerkunde zu geben, hatten wir seit einem Zerwürfnis über das Thema »Maus« wieder beendet. Ich hatte ihm damals erklären wollen, dass das Manövrieren mit der Maus in seiner Hand den Bewegungen des Zeigers auf dem Bildschirm entspräche. Als er daraufhin mit der ganzen Maus über den Monitor gefahren war und sich dann genervt beschwert hatte, dass das so nicht funktioniere, war ich abgebrochen und wurde des Raumes verwiesen. Mein nicht enden wollender Lachkrampf hatte ihn so erzürnt, dass er sich seither mit unterarmdicken Computerbüchern behalf, was aber eher leidlich funktionierte. Jedenfalls hörte man ihn
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