Lebenslang Ist Nicht Genug
entschuldigte Nancy sich fröhlich. »Ihr wißt ja, wie das ist, wenn man die Gastgeberin spielen muß. Ich bin dafür verantwortlich, daß alle sich wohl fühlen.« Sie wandte sich noch einmal nach Gail um, sah ihr aber nur sekundenlang in die Augen und senkte rasch den Blick. »Hör mal, du rufst mich doch ganz bestimmt an, wenn du mich brauchst, nicht wahr? Wenn ich irgendwas für dich tun kann, dir irgendwie helfen...« Ohne den Satz zu beenden, ging sie zum Nachbartisch hinüber.
Wie konnte ich diese Frau nur jemals für meine Freundin halten? dachte Gail traurig.
»Früher fandest du sie amüsant«, sagte Laura, die ihre Gedanken erriet. »Komm, laß uns gehen.« Laura schob ihren Stuhl zurück. »Ich muß zurück ins Büro.«
»Hast du sehr viel zu tun?« fragte Gail, als Laura sie heimfuhr.
»Das übliche. Alkoholiker, mißhandelte Ehefrauen, Inzest. Als Fürsorgerin sieht man nicht viel von der Sonnenseite des Lebens.«
»Inzest?«
»Ja, hier in River City.« Laura lachte leise vor sich hin. »Es sieht aus, als hätte ich dich schockiert. Dachtest du denn, wir in New Jersey machen so was nicht?«
»Ich kann mir nicht vorstellen, daß man so was überhaupt macht, egal wo«, sagte Gail aufrichtig.
»Dann hinkst du deiner Zeit aber ganz schön hinterher. Vorsichtige Schätzungen haben ergeben, daß einer von zehn Jungen und eins von vier Mädchen in ihrer Kindheit von erwachsenen Verwandten belästigt werden. Es ist die reinste Epidemie.«
Gail spürte, wie ihr Magen sich hob. »Aber was kann einen erwachsenen Mann an einem Kind reizen?« Falls Laura begriff, daß Gail nicht mehr von den anonymen Fällen der Statistiken sprach, die tagein, tagaus über ihren Schreibtisch wanderten, ließ sie es sich nicht anmerken. Sie konzentrierte sich auf den Verkehr, und als sie Gails Frage beantwortete, tat sie das nur in ihrer Rolle als Sozialarbeiterin. »Du würdest dich wundern, wie sexy einige dieser Fünf- oder Sechsjährigen sind«, sagte sie sachlich.
»Laura!« Gail rang nach Luft.
Erst jetzt wurde Laura die eigentliche Bedeutung ihrer Worte bewußt. Sie fuhr an den Straßenrand und stellte den Motor ab. »Also jetzt mal langsam. Worüber reden wir hier eigentlich?« Sie wandte sich Gail zu und blickte ihr ins Gesicht. »Ich hab’ doch nicht Cindy gemeint...«
Gail ließ sie nicht ausreden. »Es ist ganz egal, wen du gemeint hast. Weißt du denn nicht, was du gesagt hast? Du hast behauptet, fünf- oder sechsjährige Kinder seien sexy!«
»Manche sind das wirklich«, verteidigte Laura sich unsicher. »Schau, Gail, du weißt nicht, was in der Welt vorgeht. Du hast nicht meine Erfahrung. In mein Büro kommen tagtäglich Menschen, deren Familienleben zu scheitern droht. Da sitzt dann die prüde Ehefrau, die sich höchstens alle halbe Jahre herabläßt, mit ihrem Mann zu schlafen, weil sie’n neues Kleid will. Und daneben die kleine Tochter, die unverhohlen mit ihrem Vater flirtet. Vielen Männern fehlt die Kraft zu widerstehen, wenn...«
»Dann sollen sie sich, verdammt noch mal, zusammenreißen.« Gail hatte Tränen in den Augen. »Sie sollen, verdammt noch mal, aufhören, sich auf ihre Frauen rauszureden, und sich endlich auf
ihre Verantwortung als Erwachsene besinnen. Wenn sie andere Frauen brauchen, dann sollen sie sich gefälligst welche suchen! Aber Frauen, verstehst du mich? Die Auswahl ist weiß Gott groß genug. Kein Mann ist gezwungen, sich an einem wehrlosen Kind zu vergreifen, das nicht einmal kapiert, was mit ihm geschieht.« Verzweifelt bäumte sie sich auf. »Du bist auf den ganzen Schwindel reingefallen. Wenn’s in der Gesellschaft ein Problem gibt, halte dich nicht an den Täter, sondern an das Opfer! Gib nicht den Verantwortlichen die Schuld, sondern denen, die man am leichtesten unterbuttern kann - den Frauen! Wenn ein Mann seine fünfjährige Tochter vergewaltigt, ist seine frigide Frau dafür verantwortlich. Und seine Tochter, die so aufreizend ›sexy‹ ist. Aber den wirklich Schuldigen, den Mann, den klagt niemand an, Gott bewahre!«
»Gail, bitte beruhige dich. Ich wollte doch nicht sagen...«
Aber Gail war nicht zu bremsen. »Ich bin entsetzt darüber, daß du, eine intelligente Frau, glauben kannst, eine Fünfjährige habe einen wirklichen Begriff von ihrer Sexualität und suche bei einem Mann mehr als Zuneigung, besonders, wenn dieser Mann ihr Vater ist. Es macht mich krank zu hören, wie leicht du diesen Mann von der Verantwortung für sein Kind, ja für alle
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