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Lebenslang Ist Nicht Genug

Titel: Lebenslang Ist Nicht Genug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joy Fielding
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Selbsthilfegruppe sagen.
    Es ist mir egal, dachte sie und erinnerte sich daran, wie wertvoll all diese Beziehungen früher für sie gewesen waren. Jetzt konnte sie ohne Freunde auskommen. Wenn sie lernen mußte, ohne ihr Kind zu leben, würde sie bestimmt auch lernen, auf Freunde zu verzichten.
    Gail sah sich in dem kahlen, weißgetünchten Raum um. Von allen Zimmern, die sie gemietet hatte, und in den letzten paar Tagen war sie dreimal umgezogen, glich dieses am meisten einer Gefängniszelle. Der Raum war winzig, kaum größer als ein begehbarer Kleiderschrank. Die rissigen Wände waren mattweiß gekalkt; auf dem schmalen Bett lag nur eine dünne, verschossene Decke von undefinierbarer Farbe. Es gab keinen Stuhl, und die
einzige Beleuchtung war eine nackte Glühbirne, die von der Decke baumelte. Der Hauswirt, ein untersetzter, älterer Mann mit vorstehendem Bauch, hatte ihr weder eine Mieterordnung genannt noch sie auf Dinge hingewiesen, die in dieser Pension verboten waren. Soweit es ihn anging, durfte sie im Bett rauchen, sich auf dem Flur betrinken oder eine Schießerei im Treppenhaus veranstalten. Das Zimmer kostete zwölf Dollar pro Tag. Die Gäste unterschieden sich nicht sonderlich von den Bewohnern der anderen Häuser, in denen sie sich eingemietet hatte. Allerdings war sie noch nicht lange genug hier, um jemanden kennengelernt zu haben, außer einem offenbar geistesgestörten jungen Mann, der im Parterre wohnte und anscheinend nie das Haus verließ.
    Er hatte die etwas enervierende Angewohnheit, »Alle Mann in den Schützengraben!« zu rufen, sobald jemand das Haus betrat.
    Wie in allen Pensionen, wo sie bisher ihr Glück versucht hatte, ließ sie auch hier ihre Zimmertür offen, lauschte auf die Schritte im Flur und versuchte, Gesprächsfetzen aufzuschnappen. Sie hörte zwar oft ein paar zänkische, ärgerlich gerufene Worte, aber noch fehlte ihr jeglicher Hinweis, der einen der Bewohner mit dem Tode ihrer Tochter hätte in Verbindung bringen können. Doch Gail erlaubte sich nicht, an die Möglichkeit zu denken, ihre Suche könne für immer erfolglos bleiben. Sie hörte, wie sich unten die Haustür öffnete und schloß. »Alle Mann in den Schützengraben!« ertönte das gewohnte Kommando. Gail mußte unwillkürlich lächeln. Als sie Schritte auf der Treppe vernahm, glitt sie vom Bett und schlich zur Tür.
    »Kostet zwölf Dollar die Nacht«, hörte sie den Hauswirt sagen, als sie am Türspalt Posten bezog.
    »In Ordnung«, antwortete der Mann neben ihm und suchte in den Taschen seiner ausgewaschenen Jeans nach ein paar zerknitterten Geldscheinen. Er gab sie dem Hauswirt erst, als der die Tür des Zimmers aufgestoßen und ihm den Schlüssel ausgehändigt hatte. Gail wartete vergeblich auf einen abschließenden Höflichkeitsaustausch. Kein »Schönen Tag noch«, kein »Angenehmen
Aufenthalt«, nicht mal ein schlichtes »Dankeschön«. Der Hauswirt steckte schweigend das Geld ein und wandte sich zur Treppe. Er hielt einen Augenblick inne, als er Gail erblickte, sprach sie aber nicht an. Nur seine hochgezogenen Augenbrauen bezeugten, daß er sie überhaupt gesehen hatte.
    Jetzt entdeckte sie auch der Neuankömmling. »Kann ich was für Sie tun?« fragte er über den Flur hinweg. Seine Stimme schwankte zwischen Spott und Neugier.
    Gail schüttelte den Kopf und zog sich in ihr Zimmer zurück. Sie zitterte am ganzen Leib. Dieser Mann kam ihr bekannt vor mit seinem bulligen Körper, dem Stiernacken und den dichten, ungepflegten dunklen Locken. Sie hatte ihn schon irgendwo gesehen, und zwar mehr als einmal.
    Gail hörte die Tür zum Zimmer des Mannes zuschlagen. Im selben Moment stieß sie mit den Kniekehlen gegen die Bettkante. Sie sank auf die zerschlissene Matratze. Wo war sie diesem Mann schon begegnet?
    In Gedanken ließ sie die letzten paar Tage in Newark an sich vorbeiziehen. Es hatte sich nichts Ungewöhnliches ereignet. Sie hatte mit niemandem gesprochen, war immer allein zum Essen gegangen... Halt, das war’s! Harrys Imbißstube. Gestern. Sie hatte an einem Tisch ziemlich weit hinten gesessen, von wo sie das Kommen und Gehen der Gäste beobachten konnte. Das Lokal war etwa zur Hälfte besetzt gewesen. Am Ecktisch ganz vorn hatten zwei Schwarze miteinander gestritten. Ein Weißer mit beginnender Glatze hatte direkt vor Gail gesessen und ärgerlich Selbstgespräche geführt. Als er mit dem Essen fertig war, gesellte sich eine übergewichtige Frau zu ihm, die leicht angetrunken wirkte. Ganz hinten in der

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