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Lebenslang Ist Nicht Genug

Titel: Lebenslang Ist Nicht Genug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joy Fielding
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Kinder, entbindest. Ein Kind kann nicht die gleichen rationalen Entscheidungen treffen wie ein Erwachsener. Ein Kind läßt sich von den Erwachsenen lenken, braucht deren Führung und vertraut darauf, daß es sie bekommt. Und was tun wir, die ›Gesellschaft‹? Wir lassen es zu, daß ein Erwachsener dieses Vertrauen untergräbt und zerstört, und dann geben wir dem Kind die Schuld! Was ist nur aus dieser Welt geworden? Was tun wir unsren Kindern an?«
    Gail senkte den Kopf und weinte hemmungslos. Nach einer Weile spürte sie, wie eine Hand ihr sanft über den Rücken strich.
    »Verzeih mir«, sagte Laura leise. »Ich hab’ geredet, ohne zu denken.« Gail hielt die Augen geschlossen. Sie fühlte instinktiv, daß Laura noch nicht fertig war, daß ein »Aber« in der Luft hing.
»Aber du mußt lernen«, fuhr Laura mit unsicherer, stockender Stimme fort, »die Dinge im richtigen Verhältnis zu sehen. Du darfst nicht ständig alles, was geschieht, mit Cindys Unglück in Verbindung bringen.«
    »Ich lese täglich Zeitung, Laura.« Gails Stimme war nur ein Flüstern. »Ich verfolge einen Fall nach dem anderen, und immer wieder muß das Opfer die Schuld tragen. Ich höre den Leuten zu, Menschen wie dir, die es gut meinen. Ich höre auf das, was ihr zu sagen habt, und ihr sagt alle dasselbe - daß nämlich das Opfer irgendwie verantwortlich sei für das Verbrechen. Und der Angeklagte kommt mit Bewährungsfrist davon oder mit einer Geldbuße, und ich werde wahnsinnig bei dem Gedanken, die Polizei könne eines Tages dieses Ungeheuer fassen, das mein Kind umgebracht hat! Was dann? Man würde den Mörder vor Gericht bringen, und er würde aufstehen und sagen, meine kleine Tochter habe ihn ins Gebüsch gelockt, es sei ihre Schuld, daß sie sterben mußte, und man würde ihn laufenlassen.«
    »Sie werden ihn nicht laufenlassen«, sagte Laura mit einer Gewißheit, um die Gail sie beneidete. »Er ist zweifellos ein sehr kranker Mensch. Man wird ihn in eine Anstalt stecken. Auf keinen Fall wird man ihn läufenlassen.«
    In eine Anstalt, wiederholte Gail in Gedanken. In eine Anstalt. Er ist zweifellos ein sehr kranker Mensch.
    »Aber vorläufig sollten wir uns um dich sorgen.« Laura zögerte. »Ich will’s mal ganz vorsichtig formulieren, und bitte, versteh mich nicht falsch... In Zeiten, wie du sie jetzt durchmachst, neigen Menschen dazu, die Verstorbenen zu verherrlichen, sie mit einem Heiligenschein zu umgeben und in etwas zu verwandeln, was sie im Leben...«
    Gail hob langsam den Kopf und sah die Freundin entsetzt an. »Die Verstorbenen!« zischte sie höhnisch. »Hier geht es um meine sechsjährige Tochter, nicht um irgendeinen namenlosen Toten, und wenn ich mich daran erinnere, daß sie mir so viel Freude gemacht hat, solange sie am Leben war...«

    »Gail, so beruhige dich doch. Genau das meine ich. ›So viel Freude< hat sie dir gemacht? Gail, ich erinnere mich an Tage, da brachte dein Kind dich schier um den Verstand. Manchmal, wenn ich dich anrief, wolltest du nichts weiter, als fünf Minuten für dich allein sein.«
    »Sei still!« Gails zerquältes, verzweifeltes Gesicht brachte Laura zum Schweigen. »Sind das die Ratschläge, die du den Leuten gibst, wenn sie bei dir Hilfe suchen, ja? Du erinnerst eine Frau, deren Kind vergewaltigt und erwürgt wurde, daran, daß sie hin und wieder den Wunsch hatte, fünf Minuten allein zu sein? Daß sie auch nur ein Mensch war, genau wie ihr Kind? Du redest der Mutter ein, weil das Kind nicht immer vollkommen war und ihr manchmal auf die Nerven ging, solle sie, solle ich weniger um es trauern? Bist du wirklich so gefühllos, Laura? Bist du tatsächlich so abgrundtief dumm?«
    Die beiden Frauen saßen nebeneinander wie Fremde. Sie schwiegen lange.
    Als Laura endlich das Wort ergriff, zitterte ihre Stimme, und ihre Hände bebten. »Ich verstehe nicht, wie es dazu kommen konnte, daß wir uns derart überworfen haben. Ich wollte dir nichts von dem unterstellen, was du herausgehört hast. Mir ging es lediglich darum, daß du...«
    »...daß ich die Dinge so sehe, wie du es für richtig hältst?«
    »Nein, ganz und gar nicht. Sieh mal, ich merke ja, daß du völlig aufgelöst bist, wahrscheinlich hat der Streit mit deiner Schwiegermutter dir so zugesetzt. Aber jetzt sprichst du mit mir , Gail. Ich bin deine Freundin, und ich habe dich aufrichtig lieb. Das mußt du doch verstehen.«
    »Und du mußt begreifen, daß ich jeden meiner sogenannten Freunde ohne Bedenken opfern würde, und das gilt

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