Lebenslang Ist Nicht Genug
auch für dich, für dich ganz besonders, wenn ich dafür nur fünf Minuten mit meiner Tochter verbringen dürfte, die man mir genommen hat.«
Die beiden Frauen senkten den Blick und wandten die Gesichter
nach vorn. Für den Rest der Fahrt machte keine den Versuch, das Schweigen zu brechen, denn sie wußten beide, daß es nichts mehr zu sagen gab.
22
Gail hockte auf der alten, durchgelegenen Matratze ihres Zimmers in der Barton Street 26 und überdachte die Ereignisse der letzten paar Tage.
Alles brach auseinander. Die Fassade, die sie mit so viel Mühe aufgebaut hatte, bröckelte unaufhaltsam ab. Sie geriet ständig in Streit, erst mit ihrer Schwiegermutter, dann mit Laura, und heute morgen hatte ein neuerlicher Zank mit Jennifer zu einer Auseinandersetzung mit Jack geführt. Worum war es diesmal gegangen? fragte sie sich und versuchte, sich an die Reihenfolge des Geschehens zu erinnern.
»Laura hat gestern abend schon wieder angerufen«, hatte Jennifer beim Frühstück gesagt, und als Gail nicht darauf reagierte, hatte sie ihr die Frage gestellt: »Warum willst du nicht mit ihr sprechen, Mom?«
Gail nippte an ihrem Kaffee und schwieg. Sie merkte, daß Jack von seiner Zeitung aufblickte.
»Warum willst du nicht mit ihr reden?« hatte Jennifer noch einmal gefragt.
»Laura und ich hatte eine kleine Meinungsverschiedenheit.«
»Worüber denn?«
»Nichts von Bedeutung.«
»Warum weigerst du dich dann schon die ganze Woche, mit ihr zu sprechen? Warum gehst du nie ran, wenn sie am Telefon ist?«
»Was ist mit Laura?« mischte Jack sich ein.
»Nichts«, sagte Gail.
»Scheint aber ernst zu sein, wenn du dich sogar weigerst, mit ihr zu reden.«
»Mom, was ist passiert?«
»Also wirklich, Jennifer das geht dich nichts an! Wenn ich mit dir darüber sprechen wollte, dann hätte ich es getan. Und jetzt hör endlich auf mit der Fragerei! Bitte«, setzte sie leise hinzu.
»Ich komme zu spät zur Schule.« Jennifer sprang auf, ihre Gabel fiel klirrend auf den Teller mit Rührei, von dem sie kaum etwas gegessen hatte.
»Jennifer, du hast noch jede Menge Zeit«, sagte Jack. »Setz dich wieder hin. Ich bring’ dich im Wagen zur Schule.«
»Nein, danke.« Jennifer rannte aus der Küche. Sekunden später hörten sie die Haustür zufallen.
»Meinst du nicht, daß du sie etwas zu hart angefaßt hast?«
Gail fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und stellte fest, daß es unbedingt gewaschen werden mußte. »Es tut mir leid, das war nicht meine Absicht. Ich werde heute abend in Ruhe mit ihr sprechen.«
»Worüber hast du mit Laura gestritten?«
»Ach, nichts.«
»Das gleiche Nichts, dessentwegen du mit meiner Mutter aneinandergeraten bist?«
»Wann hast du mit deiner Mutter gesprochen?«
»Sie ist völlig durcheinander«, sagte er, ohne ihre Frage zu beantworten.
Gail holte tief Luft und sah wieder das verstörte Gesicht der alten Frau vor sich, als sie mit Gewalt aus dem Haus ihres Sohnes gedrängt worden war. »Ich werde mich bei ihr entschuldigen müssen«, sagte Gail kaum hörbar.
»Was ist passiert, Gail? Was geht hier vor? Kannst du denn nicht mit mir darüber sprechen?«
Ich wünschte, ich könnte es, dachte Gail. »Da gibt’s nichts zu besprechen«, sagte sie laut. »Es wird sich schon alles von selbst regeln.«
»Da bin ich mir nicht so sicher.«
Gail zuckte nur wortlos die Schultern. Sie wollte sich nicht mit Jack zanken.
»Was ist mit Laura? Wird euer Streit sich auch von allein regeln?«
Sie hatte nicht geantwortet, und Jack war schließlich, des Wartens müde, aufgestanden und gegangen.
Was wird mit mir und Laura? fragte sich Gail jetzt. Kann eine so lange Freundschaft in ein paar Minuten zerbrechen? Wie hatte Laura nur so etwas zu ihr sagen können? Wie hatte sie Laura solche Gemeinheiten an den Kopf werfen können? Laura war immer für sie dagewesen, hatte mit ihr gelacht und geweint und sich so sehr bemüht, ihr zu helfen. Eine echte Freundin, dachte sie und verglich Laura mit Nancy, die nicht einmal wußte, was Freundschaft bedeutete. Was für interessante Erkenntnisse man doch durch ein Unglück gewinnt, stellte sie verwundert fest.
Jetzt hatte sie beide verloren, die echte und die falsche Freundin. Aber was spielte das am Ende für eine Rolle? Ihre anderen Freunde und Bekannten riefen schon seit geraumer Zeit nicht mehr an und luden Gail und Jack auch nicht mehr ein. Sie hatten zu oft eine Absage bekommen. Die Leute verlieren die Geduld, hörte sie im Geiste die Frau aus der
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