Lebenslang Ist Nicht Genug
fünfzig
kostümierte kleine Halloween-Boten eingekauft. Voriges Jahr waren auch fünfzig gekommen, und vor zwei Jahren sogar über hundert. Aber mit jedem Jahr wurden die Warnungen dringlicher, mehrten sich die Berichte von Kindern, die in Schokolade verborgene Stecknadeln verschluckt hatten oder die mit furchtbaren Magenkrämpfen ins Krankenhaus eingeliefert wurden, weil sie den mit Blausäure versetzten Nußkuchen freundlicher Nachbarn probiert hatten. Im Radio riet man den Eltern, alles fortzuwerfen, was nicht fertig gekauft und originalverpackt war. Vielleicht war das der Grund dafür, daß dieses Jahr nur drei Kinder an die Tür gekommen waren. War es überall so, oder machten die Kleinen nur um ihr Haus einen Bogen? Hatten die Eltern ihre Kinder ermahnt, diesmal nicht bei den Waltons zu klingeln?
Kurz vor zehn, als Gail sich gerade anschickte, das Licht auszumachen und zu Bett zu gehen, klingelte es zum viertenmal. Sie war müde. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als schlafen zu gehen, was Jack schon vor einer Stunde getan hatte. Sie wußte, daß sie ihn tief verletzt hatte, obgleich er auch ihre nochmalige Entschuldigung mit der Versicherung zurückgewiesen hatte, sie habe sich nichts vorzuwerfen, er habe sich zu Unrecht eingemischt. Aber die Maske, die er so voller Freude hervorgekramt hatte, blieb achtlos auf dem Couchtisch liegen, als er Müdigkeit vorschützte und früh zu Bett ging.
Was ist nur los mit mir? Gail hatte sich diese Frage in letzter Zeit oft gestellt. Sie hatte früher alles getan, um Auseinandersetzungen zu vermeiden.
Wer immer draußen läutete, war hartnäckig. Gail ging in die Diele und öffnete vorsichtig die Tür. Was ist nur mit manchen Eltern los? dachte sie. Wie kann man die Kinder nur um zehn noch herumziehen lassen?
Aber vor der Tür standen keine Kinder, sondern Jugendliche in Jennifers Alter, ein Junge mit wild funkelnden Augen und zwei Mädchen mit krausem Haar. Ihr Lächeln und der Ausdruck des Wahnsinns in ihren Augen flößten Gail Angst ein. Wie angewurzelt
stand sie da und spürte, daß sie sich fürchtete. Sollte sie Jack rufen? Wen stellten die drei mit ihren seltsamen Kostümen nur dar?
Der Junge hielt seinen Sack auf. »Eine kleine Gabe versöhnt die bösen Geister.« Er grinste hämisch.
Gail stopfte wortlos jedem der drei ein paar Süßigkeiten in ihre Beutel.
»Ist das alles?« fragte eins der Mädchen.
Gail überließ ihnen nach kurzem Zögern alle Päckchen und Tüten, die sie noch übrig hatte.
»Das ist schon besser«, sagte der Junge. »Aber was ist los mit Ihnen? Sind Sie stumm oder was?«
Gail fand ihre Stimme wieder. »Seid ihr nicht schon ein bißchen zu alt fürs Halloween-Betteln?«
»Man ist nie zu alt, um sich zu amüsieren«, antwortete der Junge mit einem lüsternen Seitenblick. »Möchten Sie, daß ich meine zwei Puppen hier wegschicke? Damit wir beide uns’n bißchen amüsieren?«
»Ich hab’ Leukämie«, sagte Gail laut und deutlich. Sie beobachtete befriedigt, wie der Junge erbleichte.
Er trat ein paar Schritte zurück. »Ach? Tut mir leid, wirklich.« Er gab seinen Begleiterinnen einen Wink. »Zeit für uns. Der alte Charlie muß noch’n paar Häuser überfallen.«
»Charlie?« fragte Gail. Übelkeit stieg in ihr auf.
»Wir sind die Charles-Manson-Bande«, antwortete er stolz. »Haben Sie’s noch nicht gehört? Man hat uns wegen guter Führung entlassen.«
Gail schlug die Tür zu und sperrte sein obszönes Lachen aus. Zitternd stand sie in der Diele und wußte nicht, was sie tun sollte. Sie dachte an Jennifer auf Mariannes Party. »Ich bin um Mitternacht zurück«, hatte ihre Tochter versprochen. Sie dachte an Jack, der oben schlief. »Ich weiß nicht, was heut abend mit mir los ist«, hatte er gesagt. »Ich kann die Augen nicht offenhalten.« Kurz entschlossen holte Gail den abgetragenen Mantel und die
alte Tasche aus dem Garderobenschrank, öffnete die Haustür und trat hinaus in die kalte Nachtluft.
Es waren nur noch wenige Passanten unterwegs, als Gail auf die Uhr sah und feststellte, daß es gleich elf war. Die Umhängetasche schlug gegen ihre Hüfte, und Gail bemerkte, wie hell der weiße Bast in der Dunkelheit leuchtete. Sie lächelte. Eine weiße Basttasche Ende Oktober. Nancy würde bei ihrem Anblick in Ohnmacht fallen. Aber für ihre Freunde in den dunkleren Gegenden von Newark bedeutete eine Sommertasche im Spätherbst nichts Ungewöhnliches. Vielleicht waren sie auch nur zu höflich, um darüber zu reden.
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