Lebenslang Ist Nicht Genug
Wie dem auch sei, sie würde allen Kritikern den Gefallen tun und in Zukunft die braune Ledertasche mitnehmen, die sie voriges Jahr ausrangiert hatte, die aber noch irgendwo auf dem Speicher liegen mußte. Sie würde sie gleich morgen herunterholen, um Nancy eine Freude zu machen. Gail schmunzelte. Auf einmal fand sie sich am Memorial Park wieder. Im Schwimmbecken hatte man das Wasser abgelassen und auf den Tennisplätzen die Netze entfernt. Sie zögerte einen Moment am Eingang, ließ den Blick über das gespenstische Panorama aus schwarzen Bäumen und hellen Spazierwegen schweifen und fragte sich, ob sie absichtlich hergekommen sei. Der Park stand seit kurzem in dem Ruf, nachts ein Treffpunkt für Penner und Wermutbrüder zu sein. Wie in anderen Städten, so wurde auch hier die Bevölkerung davor gewarnt, nach Anbruch der Dunkelheit in Parks zu gehen. Gail steckte die Hände in die Manteltaschen und betrat die Anlage.
Sie ging ziemlich rasch, bis sie merkte, wie schnell sie lief, und sich zu einer langsameren Gangart zwang. Es hatte keinen Sinn zu rennen. Wenn sie schon einmal hier war, wollte sie die Gelegenheit nutzen, nach Spuren suchen und der Dunkelheit ihr Geheimnis entreißen. Der Mörder war ein Einzelgänger, der sich vermutlich viel in Parks herumtrieb. Vielleicht hatte er in diesem Park seine Schlafstelle. Vielleicht hatte sie in all den Wochen umsonst
in Newark und East Orange nach dem Mörder gesucht, während dieser die ganze Zeit gemütlich in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft kampierte? Gail verlangsamte ihre Schritte noch ein wenig, aber sie erreichte die Tennisplätze, ohne einer Menschenseele begegnet zu sein.
Sie stand mitten auf einem Spielfeld, da, wo eigentlich das Netz hätte sein müssen, und sah einen unsichtbaren Ball in hitzigem Kampf hin- und herfliegen. Die Kräfte des Guten und des Bösen. Sie kicherte, während sie zusah, wie das Böse ans Netz vorpreschte, um den entscheidenden Schlag zu führen, der seinen Sieg bedeutete. Gail wandte sich um und verließ die Tennisplätze. Sie ging auf eine Baumgruppe zu. Davor standen zwei Bänke. Auf jeder von ihnen schlief ein Betrunkener, neben sich eine leere Weinflasche. Sie suchte in den Gesichtern nach Spuren von Leben, aber ihre Züge erzählten nur von jahrelanger Verwahrlosung und Selbstzerstörung. Gail wandte den Blick ab. Sie wollte nichts mehr sehen.
Hinter sich hörte sie ein Rascheln und fuhr herum, sah aber nur ein paar Büsche. Sie lauschte, doch alles blieb still. Sie war plötzlich schrecklich müde, der kalte Wind ließ sie frösteln, und sie beschloß umzukehren. Hier würde sie nichts finden. Sie war fast am Ausgang angelangt, als etwas Hartes in ihren Rücken gestoßen wurde. Sie rang nach Luft und wandte sich um, aber ihr Gegner war stark und behende. Er warf sie brutal zu Boden, trat sie in die Rippen, packte sie an den Schultern und drehte sie mit Gewalt auf den Rücken.
Erst als sie vor Schmerz zitternd dalag, unfähig, etwas anderes zu spüren als ihre geschundenen Rippen, ging ihr plötzlich auf, daß er nicht hinter ihr her war, sondern hinter ihrer Tasche. Gail rollte sich über sie, aber ein neuerlicher Tritt in den Brustkorb warf sie herum, und sie landete würgend im Dreck. Der Mann, der sie überfallen hatte, entriß ihr die Tasche. Doch als Gail aufblickte, um sein Gesicht zu sehen - es war alles so schnell gegangen, und sie hatte nichts erkennen können, außer daß ihr Gegner
groß und hager war -, da traf seine Faust mit einem heftigen Schlag ihre Wange, und sie sank halb bewußtlos auf die kalte Erde zurück.
Sie lag ganz still, lauschte den Schritten, die in der Dunkelheit verhallten, und wunderte sich, daß sie so plötzlich die Beherrschung verloren hatte. Als sie die Augen schloß, war ihr letzter Gedanke, daß sie sein Gesicht überhaupt nicht gesehen hatte.
Jack kam kurz nach zwei Uhr morgens ins Krankenhaus, um sie abzuholen.
Ein Streifenpolizist hatte eine leere weiße Basttasche am Eingang zum Memorial Park gefunden und Verdacht geschöpft. Er hatte einen Kontrollgang durch den Park gemacht, hatte Gail bewußtlos aufgefunden und sie ins Krankenhaus gebracht. Gail konnte sich nicht an die Fahrt dorthin erinnern, und es dauerte eine Weile, ehe sie begriff, daß sie den Überfall im Park nicht bloß geträumt hatte. Ein paar schreckliche Minuten lang hatte sie geglaubt, sie erwache im Krankenhaus gleich nach Cindys Tod und alles, was in den vergangenen sechs Monaten geschehen war, sei nur
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