Lebenslang
Priorität.«
»Höchste Priorität? Was heißt das genau?«, will ich wissen.
»Alle Streifenwagen, die momentan nicht im Einsatz sind, werden hierherbeordert«, sagt Polizeikommissarin März.
»Wie viele?«, fragt ihr Kollege.
»Mit unserem sind es acht. Also mindestens sechzehn Beamte, vielleicht auch mehr.«
»Sie nehmen Julias Verschwinden ernst«, sagt Oliver verblüfft.
März sieht ihn überrascht an. »Selbstverständlich tun wir das, was haben Sie denn geglaubt? Dass wir die Anzeige aufnehmen und dann nach Hause fahren?«
»Nein, natürlich nicht«, gibt Oliver kleinlaut zu.
»Ich brauche eine Liste aller Freunde, die Julia hat«, sagt Schumacher. »Mit Adresse und Telefonnummer. Beschreiben Sie ihre Lebensgewohnheiten. Welchen Schulweg nimmt sie? Weicht sie manchmal von ihm ab? Gibt es eine Zeit am Tag, an der sie unbeaufsichtigt ist? Geht sie in einen Sportverein?«
Ich winke ab. »Das kann ich mir nicht alles merken.«
»Keine Angst, ich werde Ihnen dabei helfen«, sagt Schumacher, stellt sein Glas ab und steht auf.
Wir gehen die Treppen hinauf in mein Arbeitszimmer. Je höher wir steigen, desto wärmer wird es. »Im Hochsommer schwitzen Sie wahrscheinlich hier oben«, sagt Schumacher, als wir mein kleines Atelier betreten.
»Es geht«, sage ich. »Das Dach ist einigermaßen isoliert.« Ich räume einen Stapel Papier von einem Stuhl und biete ihn Schumacher an. Seine Waffe schlägt gegen die Armlehne, als er sich setzt. »Entschuldigen Sie bitte die Unordnung, aber normalerweise besucht mich hier oben niemand.«
»Mit Ausnahme Ihrer Tochter«, sagt Schumacher.
»Wie kommen Sie darauf?«, frage ich überrascht.
Schumacher deutet auf einen kleinen Schreibtisch, der in einer Ecke steht und auf dem sich neben einer Dose mit Stiften und Pinseln auch ein Zeichenblock befindet.
»Ab und zu kommt Julia hier hoch, um mir Gesellschaft zu leisten. Dann malt sie, und wir unterhalten uns.«
»Worüber?«
»Über alles Mögliche. Die Schule, meine Arbeit. Manchmal zeige ich ihr ein paar Tricks.« Ich öffne die Schublade eines Blechschranks und hole ein A1-Blatt hervor. Es zeigt ein Durcheinander von Formen und Farben, aber nicht wahllos, sondern mit Sinn und Verstand angeordnet.
»Darf ich?«, fragt Schumacher.
Ich nicke und gebe ihm das Bild.
»Beeindruckend«, sagt er und hebt die Augenbrauen. »Das ist wie der Blick in einen bunten Urwald.«
»Es ist schön, nicht wahr?«
»Womit ist es gezeichnet worden? Nicht mit Wachsmalstiften, oder?«
Ich lache laut auf. »Mit Wachsmalstiften dürfen Sie meiner Tochter nicht mehr kommen, die Zeiten sind schon lange vorbei. Das ist Pastellkreide.«
Schumacher gibt mir das Bild zurück, und ich schließe die Schublade behutsam. Dann setze ich mich an meinen Rechner und schalte ihn ein. Mit einem leisen Piepen erwacht er zum Leben. Ich beginne, Namen und Adressen aus meinem Telefonbuch zu kopieren, und beantworte die Fragen, die er mir stellt. Immer wieder vertippe ich mich. Trotz der sommerlichen Wärme sind meine Finger kalt und klamm. Schließlich drucke ich das Blatt mehrmals aus und gebe es Schumacher.
Er überfliegt es. »Haben Sie ein Foto Ihrer Tochter? Möglichst ein aktuelles?«
Ich denke nach. Die Bilder aus unserem Skiurlaub im Allgäu sind noch nicht eingeklebt, der Schuhkarton steht neben der Kiste mit den Unterlagen für das Finanzamt. Ich gehe die Abzüge durch und finde endlich einen, der sie meiner Meinung nach am besten trifft. Es war an einem Abend aufgenommen worden, als Julia uns beim Monopolyspielen wie die Weihnachtsgänse ausgenommen hatte. Strahlend hält sie die Straßenkarten und ein dickes Bündel Spielgeld in die Kamera. Ihre Zahnspange glänzt silbern im eingefrorenen Licht des Blitzes. Sie ist glücklich. Ihre Augen leuchten. Sie ist ganz bei sich. Und bei uns.
»Hier«, sage ich mit einer Stimme, die ich nicht mehr unter Kontrolle habe. »Es ist das beste, das ich von ihr habe.«
»Können wir es behalten?«, fragt Schumacher.
»Natürlich«, sage ich und wiederhole das Wort noch einmal. »Natürlich.«
Der Polizist holt seinen Kugelschreiber aus der Brusttasche und schreibt etwas auf die Rückseite des Fotos. Wir gehen wieder nach unten.
Mittlerweile sind die anderen Streifenwagen eingetroffen. Durch die geöffnete Haustür kann ich sehen, wie sich die Nachbarn mit den Beamten unterhalten. Frau Beckermann von nebenan hat die Hand vor den Mund geschlagen und schüttelt ein ums andere Mal ungläubig den Kopf. Sie ist
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