Lebenslang
eine freundliche ältere Dame, bei der Julia ab und zu nach der Schule zu Mittag isst, wenn Astrid arbeitet und ich geschäftlich unterwegs bin. Frau Beckermann hat noch bis vor wenigen Jahren eine Kindertagesstätte in Lamboy geleitet. Normalerweise kann sie nichts so leicht erschüttern. Aber jetzt hat sie Tränen in den Augen. Als sie mich sieht, hebt sie zaghaft die Hand. Ich winke zurück. Dann spricht sie weiter mit dem Polizisten, der sie befragt.
Sie glaubt, dass Julia tot ist, durchfährt es mich. Sie rechnet mit dem Schlimmsten! Aber Julia ist nicht tot! Ich mag die klein gewachsene Frau mit dem grauen Kurzhaarschnitt und der hageren Figur, aber am liebsten würde ich ihr jetzt ins Gesicht schreien, dass sie aufhören soll, solch ein betroffenes Gesicht zu machen! Julia lebt! Nichts ist entschieden! Niemand weiß, was passiert ist! Es gibt für Julias Verschwinden eine ganz einfache logische Erklärung! Herrgott, wie viele Kinder kommen zu spät nach Hause, weil sie an alles Mögliche denken, nur nicht an die Angst ihrer Eltern!
Die ersten Schaulustigen sind auch da. Sie wollen wissen, was es mit den vielen Polizeiautos in unserer Straße auf sich hat. Zwei kleine Jungs hüpfen krakeelend auf ihren Rollern herum und werden von ihren Eltern zur Ordnung gerufen. Einer der Polizisten unterhält sich mit Frau März, Schumachers Kollegin. Er trägt keine Uniform und gibt der jungen Polizistin sein Funkgerät, als er mich sieht und zu mir kommt.
»Herr Steilberg? Mein Name ist Rodenkirchen, ich bin der zuständige Revierleiter und leite den Einsatz.« Die Stimme ist heiser wie die eines Kettenrauchers. Sein dünnes Haar ist grau, die gerötete Haut grobporig und ungesund. Er lässt sich von Schumacher das Foto und die Liste geben. »Können wir uns vielleicht irgendwo hinsetzen, wo wir ungestört sind?«
»Draußen auf der Terrasse?«, schlage ich vor und fange den Blick meiner Frau ein, der so verzweifelt ist, dass ich am liebsten jeden rausschmeißen würde. Doch ich weiß, dass sie es jetzt nicht erträgt, mit mir alleine zu sein. Wieland tröstet Astrid noch immer. Die anderen sind nicht gegangen, obwohl sie wie auf glühenden Kohlen sitzen.
Wir treten hinaus in den Garten. Auf dem Grill liegt noch ein Stück Fleisch, das aber mittlerweile so verkohlt ist, dass ich es wegschmeiße.
»Bitte, setzen Sie sich«, sage ich. Rodenkirchen nimmt Platz, ich setze mich in den Sessel, der ihm gegenübersteht. Astrid ist nachgekommen, überlegt erst, wo sie sich hinsetzen soll, entscheidet sich dann aber, stehen zu bleiben.
»Wir nehmen die Sache sehr ernst«, sagte er. »Ich möchte, dass Sie das beide wissen.« Er streicht mit der Hand die Adressliste glatt, die ihm Schumacher gegeben hat. »Julia wurde von mir vor zehn Minuten zur Fahndung ausgeschrieben, und zwar in ganz Hanau und Offenbach. Meine Beamten durchkämmen jede Straße und jedes Grundstück hier in Steinheim.«
Ich schließe die Augen, um den Worten ihre Wucht zu nehmen. Rodenkirchen hat es nicht gesagt, aber ich spüre, dass er mit dem Schlimmsten rechnet. »Was können wir tun?«, frage ich.
»Sie können uns bei der Suche helfen«, sagt Rodenkirchen. »Aber vorher möchte ich Sie bitten, noch einmal in sich zu gehen. Kann es wirklich nicht sein, dass Sie sich mit Ihrer Tochter gestritten haben? Irgendein nichtiger Anlass, eine Kleinigkeit, die Sie vielleicht gar nicht so gravierend sehen.«
»Das haben wir bereits schon alles durchgekaut«, fährt ihn Astrid an. »Wir haben uns nicht mit Julia gestritten. Sie ist nicht von zu Hause davongelaufen. Man kann sich nicht mit Julia streiten. Das geht nicht, ist vollkommen unmöglich. Unsere Tochter ist lieb wie ein Schaf.«
Ich sehe Astrid überrascht an, und auch Rodenkirchen ist für einen Moment verblüfft. Im Zusammenhang mit meiner Tochter fallen mir einige Tiernamen ein. Die meisten wie Hase oder Maus will sie nicht mehr hören. Zumindest nicht dann, wenn ihre Freundinnen in der Nähe sind. Doch Schaf gehört nicht dazu. Ich habe diesen Begriff, der so abwertend klingt, aus Astrids Mund zuvor noch nie gehört.
»Was ist?«, fragt sie verwirrt, als hätte sie nicht gemerkt, dass sie sich im Stilregister vergriffen hat. Ich merke, wie sich Rodenkirchen im Geiste eine Notiz macht. Und mit einem Mal wird mir klar, dass wir alle unter Beobachtung stehen. Abzüge in der Haltungsnote werden nicht toleriert, sondern sogleich vermerkt.
»Ich möchte, dass Sie gehen und Ihre Arbeit machen«, sage
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