Lebenslang
dass unsere Tochter wieder auftaucht.«
Wütend stößt sie die Tür auf und verschwindet.
Nun bin ich auch auf Schumacher zornig. »Ich hätte es vermutlich etwas anders ausgedrückt, aber Astrid hat recht. Keine Psychologen. Keinen Pfarrer. Vor allen Dingen keinen Pfarrer!«
»Herr Steilberg, das mag jetzt in Ihren Ohren zynisch klingen, aber Sie sind nicht die Ersten, die so etwas erleben«, sagt Schumacher. »Sie werden Hilfe brauchen, glauben Sie mir.«
»Das sagt Ihre Erfahrung?«
»Ja, das sagt meine Erfahrung.«
Ich schweige. »Wie lange machen Sie diesen Job schon?«, will ich schließlich von ihm wissen.
»Bald zwanzig Jahre. Alleine wird es sehr schwierig für Sie.«
»Julia ist nicht tot«, wiederhole ich mein Mantra.
»Dabei geht es ausnahmsweise nicht um Ihre Tochter, sondern um Sie und Ihre Frau, Herr Steilberg. Welche Bilder sehen Sie, wenn Sie die Augen schließen?«
Zwiebeln im Rinnstein.
Weiße Milch auf schwarzem Asphalt.
Julias nackte Haut ist schmutzig, das rote T-Shirt zerrissen. Blut sickert aus unzähligen Wunden. Sie versteht nicht, was mit ihr geschieht, aber sie weiß, dass sie sterben muss. Allein. Julia schreit nach uns, wie ein kleines Kind, das seine Eltern verloren hat. Aber wir hören sie nicht. Wir sind taub und blind.
»Sie tragen keine Schuld!«, sagt Schumacher eindringlich. »Das müssen Sie sich bewusst machen!«
»Julia ist nicht tot!« Meine Stimme zittert, als ich mich hinsetze und das sage. Schumacher tröstet mich nicht. Er sagt nicht: Haben Sie keine Angst, alles wird gut. So wie ich. Zwanzig Jahre ist er bei der Polizei. Ich frage mich, was er in dieser Zeit erleben musste, denn er ist sich gewiss, dass niemals etwas gut wird. Er macht mir keine Hoffnung. Trotzdem legt er mir eine Hand auf die Schulter. Es ist eine unbeholfene, seltsam intime Geste, die nicht zu ihm passt.
»Ich werde jetzt helfen, meine Tochter zu suchen«, sage ich und stehe auf. »Es ist das Mindeste, was ich für sie tun kann.« Und für mich.
Wir teilen uns in Zweiergruppen auf. Monique bleibt bei Astrid. Die Matuschkas nehmen die Straßen bis zum Südfriedhof. Wieland und ich konzentrieren uns auf den nördlichen Teil Steinheims, der an den Main grenzt. Hier befinden sich der Supermarkt, der Hort und die Grundschule, in die Julia geht. Hier leben auch die meisten ihrer Freunde. Uns bleiben nur noch gute zwei Stunden, bis es dunkel wird und die Nacht hereinbricht.
Als wir vor die Haustür treten, bin ich überrascht. Mittlerweile sind zu dem Streifenwagen auch zwei Mannschaftsbusse der Polizei gekommen. Beamte haben die kleine Stichstraße, die zu unserem Haus führt, mit einem rotweißen Band abgesperrt, als wären wir berühmte Persönlichkeiten, die einen besonderen Schutz genießen. Rodenkirchen steht mit Polizeikommissarin März bei einem der VW-Busse. Beide betrachten einen Stadtplan und markieren einzelne Straßenzüge mit verschiedenfarbigen Textmarkern. Im Hintergrund krächzt der Funk unverständliche Meldungen. Als Rodenkirchen mich sieht, tritt er seine Zigarette aus, zerreibt sie förmlich unter seiner Schuhsohle.
»Wir untersuchen gerade alle Nachbargrundstücke, haben bis jetzt aber noch nichts gefunden«, sagt er. »Auch in den Krankenhäusern ist kein Mädchen eingeliefert worden, auf das die Beschreibung Ihrer Tochter zutrifft.«
»Die Wasserschutzpolizei und das LKA sind informiert«, sagt die Polizistin. »Ebenso die Radiostationen im Rhein-Main-Gebiet.«
Ich höre kaum richtig zu. Eigentlich verstehe ich immer weniger, was um mich herum geschieht. Ich habe keine Ahnung, wer für was zuständig ist. Kriminaldauerdienst. Landeskriminalamt. Polizei. Feuerwehr. Rettungskräfte. Mir ist es egal, sollen sie ihre Arbeit machen. Eine Maschinerie hat sich in Bewegung gesetzt, die ich nicht steuern oder gar kontrollieren kann. Ich will nur mein Leben, meine Tochter wiederhaben.
»Wo wollen Sie hin, Herr Steilberg?«, fragt mich Rodenkirchen erstaunt.
»Muss ich mich jetzt schon bei Ihnen abmelden?«, rufe ich und gehe weiter. Die anderen zögern, bleiben stehen, als warten sie auf eine Erlaubnis, mir folgen zu dürfen. »Ich gehe meine Tochter suchen.«
Erst als ihm Schumacher energisch zunickt, ringt sich Rodenkirchen ein Lächeln ab. Ich frage mich, was mit dem Mann los ist, warum er sich wie ein Feldherr benimmt. Aber andererseits muss er das wohl. Rodenkirchen ist ein Heerführer, der seine Truppen gegen einen unbekannten Feind in die Schlacht schickt. Für ihn
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