Lebenslang
ist das berufliche Routine. Für mich der Ausnahmezustand.
Die Straße ist zugestellt und für den Verkehr gesperrt. Immer noch mehr Polizisten treffen ein. Sie tragen dunkelgrüne Overalls, schwarze Baretts und graue Handschuhe. Den meisten ist anzusehen, dass ihnen dieser Einsatz zu schaffen macht.
Hinter der Absperrung stehen Männer, Frauen und auch Kinder. Nur wenige sind Nachbarn oder Freunde, aber ich kenne sie fast alle. Vom Einkaufen, von der Schule und aus dem Sportverein, in dem Julia Volleyball und ich Handball spielen, obwohl ich schon mindestens ein Jahr nicht mehr beim Training war. Sie sehen mich, nicken mir ernst zu, und ich grüße zurück. Dann machen wir uns auf den Weg.
Wieland sagt kein Wort, als wir die Straßen absuchen. Immer wieder begegnen uns Polizisten, die an Haustüren klingeln und Vorgärten durchstöbern. Die Spielplätze sind verwaist. Selbst auf der Bank vor dem Friedhof, wo um diese Zeit normalerweise Halbwüchsige rauchend herumlungern, sitzt niemand. Ab und zu hören wir, wie jemand den Namen meiner Tochter ruft. Ansonsten ist alles still. Nur die verdammten Flugzeuge sind so laut wie immer.
Als wir den Hort erreichen, wo ich Julia noch letztes Jahr fast jeden Nachmittag abholte, breche ich weinend zusammen, betrachte mich dabei beinahe ungerührt von außen und wundere mich, wie ich so die Kontrolle verlieren kann. Ich schäme mich dafür und schüttele rüde Wielands Hand ab, die mir aufhelfen will.
Er soll mich nicht so sehen.
Niemand soll mich so sehen.
»Tu dir das nicht an«, flüstert er mir zu. »Geh heim.«
»Sie ist nicht tot!«, schreie ich ihn an.
»Komm«, sagt er nur und zieht mich hoch. Diesmal lasse ich es zu. Wir gehen zurück. Wieland legt stützend und schützend die Hand um meine Hüfte, wie ein Betreuer, der einen verletzten Spieler vom Feld führt. Als wir unsere Straße erreichen, befreie ich mich aus seiner Umarmung.
»Danke. Ich glaube, das letzte Stück kann ich wieder alleine gehen.«
»Du willst immer noch der ganz harte Kerl sein, nicht wahr? Einer, der nichts an sich heranlässt, der alles unter Kontrolle hat«, sagt Wieland. »Ich habe die Diskussion vorhin auf der Terrasse mitbekommen. Du solltest auf das Angebot des Polizisten eingehen. Das ist meine Meinung.«
Ich verstehe nicht, was er meint. »Welches Angebot?«
»Ihr braucht jemanden, der euch hilft. Einen Psychologen. Einen Seelsorger. Wen auch immer.«
»Eine Schulter zum Ausheulen?« Mir ist nicht zum Lachen zumute, trotzdem kann ich ein Grinsen nicht unterdrücken. »Ich finde, du machst das hervorragend.«
Wieland verzieht keine Miene. »Ich meine das im Ernst. Astrid ist jetzt schon am Ende, die Angst wird sie umbringen. Und du …«
»Und ich werde mich nicht vor einem Fremden auskotzen«, falle ich ihm ins Wort. »Kein Psychologe. Und schon gar kein Pfarrer. Oder sollen wir jetzt für Julia eine Kerze anzünden und zusammen beten?«
»Wenn es hilft«, sagt Wieland. »Du musst auf Astrid aufpassen.«
»Das weiß ich.«
»Sie bewegt sich am Rande eines Zusammenbruchs.«
»Ich sagte, das weiß ich!«, sage ich lauter als beabsichtigt.
»Aber das Schwimmen wird verdammt schwierig, wenn sich zwei Ertrinkende aneinander festhalten«, antwortet Wieland ebenso laut.
»Nach ihren Erfahrungen nach Julias Geburt wird Astrid keinen Psychologen mehr akzeptieren«, sage ich. »Vergiss es.«
»Was ist mit diesem Schumacher? Auf mich macht er einen ziemlich vernünftigen Eindruck.«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht. Hör zu, ich habe keine Lust mehr, über das Thema zu reden, okay?«
Unser Haus ist mittlerweile ein Basiscamp für alle, die nach Julia suchen. Es ist wie bei einer Party, alle halten sich in der Küche auf, nur dass die Stimmung müde und angespannt ist. Die Helfer sprechen sich gegenseitig Mut zu, Monique kocht ununterbrochen Kaffee. Auch mir stellt sie unaufgefordert einen Espresso hin, als ich mich an den Tisch setze. Ich rühre die Tasse genauso wie die Kekse nicht an. Astrid sitzt neben mir. Ich lege ihr einen Arm um die Schulter und ziehe sie an mich heran. Ich muss sie fast dazu zwingen. Sie beginnt wieder zu weinen. Die Unterhaltungen ersterben.
»Wo sind die Bilder?«, frage ich plötzlich.
»Welche Bilder?«, fragt Oliver.
Wir haben an einer Wand so etwas wie eine kleine Familiengalerie. Fotos, aus dem Urlaub, von Weihnachten, der Einschulung und Ausflügen. Die Hälfte der Rahmen ist leer.
»Wir haben sie an die Polizisten verteilt.« Oliver
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