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Lebenslang

Lebenslang

Titel: Lebenslang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schwindt
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halb vertrocknete, dürre Birkenfeigen und ein armseliger Drachenbaum ihr kümmerliches, vernachlässigtes Dasein fristeten.
    Sie spürte keinen Schmerz, denn der Körper gehörte ihr in diesem Moment nicht mehr. Blut sickerte aus einer Platzwunde über der rechten Augenbraue und tropfte auf den kalten harten Boden. Sie sah die Spinnweben unter der Fensterbank, die Staubflocken und eine ausgetretene Zigarettenkippe. Ihr linker Arm lag in einer Milchpfütze. Die Spitzen der Finger berührten einen Apfel, der ebenfalls mit ihr die Treppe hinuntergerollt war. Sie hatte ihren unter Krämpfen zitternden Körper verlassen und betrachtete sich aus einer leicht erhöhten Perspektive, so als wäre sie gestorben und ihre Seele würde gen Himmel fahren. Alles sah friedlich aus. Nichts störte diese innere Ruhe, die sie erfüllte. Weder die Flugzeuge, die im Minutentakt über Sachsenhausen hinwegflogen. Noch der laute Fernseher aus der Wohnung einen halben Stock unter ihr. Eigentlich hatte man sie dazu eingeladen, die Eröffnungsfeier und das erste Spiel der Fußballweltmeisterschaft gemeinsam mit den Nachbarn anzuschauen. Doch sie machte sich nichts aus Fußball. Sie fand, dass zweiundzwanzig Männer, die hinter einem Ball herrennen, eine absurde Vorstellung bieten. Glücklicherweise würde die deutsche Mannschaft erst an einem anderen Tag spielen, sodass sie vom abendlichen Autokorso verschont bleiben würde.
    Yvonne versuchte den Kopf zu bewegen. Das Blut lief ihr daraufhin ins Auge, aber sie zwinkerte nicht. Ihr Körper befand sich in einem Ausnahmezustand. Das System war abgestürzt und musste neu gebootet werden, das dauerte seine Zeit. Geduld war alles, also wartete sie.
    Es war erstaunlich, welche Geräusche man hörte, wenn es still war. Man musste nur genau lauschen. So richtig ruhig war es in einem Haus wie diesem nie. Am lautesten waren die Kinder der Schröders unter dem Dach. Ständig hörte man das Trampeln der kleinen Füße, das laute Quietschen von Stimmen oder das Heulen, wenn die beiden Jungs mal wieder Streit hatten. Sie mochte die Kinder, obwohl es mit der Ruhe im Haus vorbei war, seit diese leicht dysfunktionale Familie eingezogen war. Sie selbst konnte sich nur noch schemenhaft daran erinnern, wie sie ihren Sohn großgezogen hatte, was nicht immer einfach gewesen war. Besonders, als ihr Mann gestorben war und sie damit dem Club der alleinerziehenden Mütter beigetreten war. Glücklicherweise hatten damals noch ihre Eltern gelebt, waren noch rüstig und vital gewesen. Ohne sie hätte sie es niemals geschafft, Kind und Beruf unter einen Hut zu bringen. Jetzt war Florian neunzehn Jahre alt. Er studierte hier in Frankfurt Jura, aber sie hatte ihn dazu gedrängt, sich ein kleines Zimmer in Bockenheim zu nehmen. Eigentlich verstanden sie sich recht gut, aber Yvonne fand, dass sie ihre Mission zufriedenstellend bewältigt und somit ein Anrecht auf ihr altes Leben erworben hatte.
    Ihr altes Leben. Wenn sie gekonnt hätte, hätte sie jetzt gelacht.
    Aus der Wohnung unter ihr hörte sie den gedämpften und ruhigen Singsang des Fernsehkommentators. Offensichtlich schien das Spiel niemanden vom Hocker zu reißen.
    Langsam spürte sie, wie das Blut in ihrem Auge brannte. Das war ein gutes Zeichen. Es deutete darauf hin, dass ihre Lebensgeister, die die ganze Zeit gut einen halben Meter über ihr geschwebt hatten, sich dazu entschlossen, in den verkrampften und zitternden Körper zurückzukehren. Yvonne fragte sich, ob ein Anfall wie dieser sich mit einer Nahtoderfahrung vergleichen ließ. Wahrscheinlich nicht, denn sie hatte weder das Licht am Ende eines Tunnels gesehen, noch hatten verstorbene Freunde und Verwandte zu ihr gesprochen. Vielleicht war das Leben nach dem Tod aber auch nur ein einziger Humbug. Eine Lüge, die einen glauben machen sollte, das Beste käme noch. Sie hatte lange im Koma gelegen, zwei Wochen. Und von dieser Zeit hatte sie nur eine große Leere in Erinnerung behalten, wie nach einem langen, tiefen und traumlosen Schlaf. Nicht gerade unangenehm. Jedenfalls besser als das, was sie in diesem Moment durchmachte.
    Langsam senkte sich ihre Perspektive wieder, der innere Blick verschmolz mit dem, den sie durch ihre offenen Augen wahrnahm. Vorsichtig versuchte sie, eine Faust zu ballen. Sie wollte um Hilfe rufen, aber sie konnte sich noch nicht einmal räuspern. Und auch wenn sie ihre Stimme wiederfände, wusste sie nicht, ob man sie überhaupt hören könnte. Yvonne hatte keine andere Wahl. Sie musste

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