Lebenslang
stottert, als er das sagt. »Astrid hat es erlaubt.«
Ich lasse Astrid los und stoße sie dabei fast von mir. Es waren Bilder aus glücklichen Tagen, die jetzt nicht mehr da sind, so als hätte man sie gestohlen.
»Du bekommst sie wieder«, sagt Oliver. »Das hat man uns versprochen.«
Ich stehe auf, langsam. Nur mühsam kann ich meine Wut beherrschen. »Raus«, sage ich zwar leise, aber deutlich, damit mich jeder versteht. »Raus mit euch.«
Die Tassen werden auf den Tisch gestellt. Alle gehen aus dem Raum und lassen mich mit Astrid allein.
»Was sollen wir nur tun?«, frage ich sie.
Sie presst die Lippen aufeinander.
»Warum sprichst du nicht mit mir?« Sie zuckt zusammen, als ich sie anschreie. »Gibst du mir vielleicht die Schuld daran, dass Julia nicht wiederkommt? Ist es so?« Das wäre irrsinnig, aber mittlerweile glaube ich fast alles. »Ich habe mich nicht mit ihr gestritten, hörst du? Sie ist mein Leben!«
Erst jetzt schaut mich Astrid an, und ich kann ihren Blick nicht deuten. »Wir müssen zusammenhalten. Bitte!«, flehe ich sie an. Aber ich erreiche sie schon nicht mehr. Nur nicht reden. Kein Streit, keine Auseinandersetzung. Dinge existieren nur, wenn sie einen Namen haben, wenn man über sie spricht. Schweigt man, ist alles gut. Das ist Astrids Art, mit Problemen umzugehen, immer. Und deswegen geht auch Julia jeder Auseinandersetzung aus dem Weg. Sie hat nicht viel von ihrer Mutter, aber darin sind sie sich ähnlich.
Es ist wie damals, kurz nach der Geburt. Nur dass ich nicht die Kraft habe, all das noch einmal durchzustehen. Nicht jetzt, wo mir selbst die Angst um Julia die Luft zum Leben raubt.
Ich gebe Astrid einen Moment oder zwei, um mir vielleicht etwas zu sagen, und sei es nur durch eine Geste oder einen Blick. Doch die Sekunden verstreichen ungenutzt. Am liebsten würde ich meine Frau an der Schulter packen, sie schütteln und schlagen, nicht um ihr Schmerzen zuzufügen, sondern damit sie mich endlich wahrnimmt.
Stattdessen stehe ich auf und gehe in die Küche, wo ich mich über die Spüle beuge, als müsste ich mich übergeben. Es dämmert bereits, aber ich schalte das Licht nicht ein. Julia ist da draußen, irgendwo, alleine, in Todesangst. Meine Phantasie ist ein Teufel. Dieser Teufel produziert Bilder, die so unerträglich sind, dass ich meine Augen nicht schließen möchte. Gleichzeitig flüstert er mir ständig zu, dass alles in Wirklichkeit noch viel schlimmer ist. Dass sich Julia an einem Ort befindet, den nie ein Mensch betreten dürfte. Schon gar nicht ein zehnjähriges Mädchen, das überhaupt nicht verstehen kann, was Tod und Leiden und Schmerzen bedeuten.
Ich sehe durch das Küchenfenster Schumacher und all die anderen Polizisten, unsere Freunde und Nachbarn und bin zum ersten Mal an diesem Tag dankbar, nicht alleine zu sein. Oliver sieht mich, und ich gebe ihm ein Zeichen, dass alle wieder hereinkommen dürfen.
Das Haus füllt sich wieder. Kaum einer spricht ein Wort, und wenn etwas gesagt wird, so ist es ein pietätsvolles Flüstern, so als läge jemand im Sterben. Ich gehe ins Wohnzimmer, schalte das Radio ein und suche, was ich sonst nie tue, einen Musiksender. Die Blicke, die ich dafür ernte, sind voller Mitleid. Monique kümmert sich gemeinsam mit Wieland um meine Frau. Es ist erstaunlich. Mit ihrem Bruder spricht sie. Warum dann nicht mit mir? Ihre Stimme ist so leise, dass ich nicht verstehe, was sie sagt, aber sie ist aufgebracht. Die Lippen bewegen sich schnell in ihrem maskenhaften Gesicht, so als führte sie ein Selbstgespräch oder leiere ein Gebet herunter.
»Sie haben gewonnen«, sage ich zu Schumacher, der neben mir steht. »Lassen Sie jemanden kommen.«
Ohne seine Antwort abzuwarten, gehe ich die Treppe hinauf. Ich muss alleine sein. Eigentlich möchte ich in mein Büro, aber die Tür zu Julias Zimmer steht weit offen, und so bleibe ich stehen. Mittlerweile dämmert es, und ich schalte das Licht ein. Alles ist so, wie sie es verlassen hat. Auf dem Schreibtisch liegen verstreut ihre Hausaufgaben, die sie heute Abend noch hatte fertig machen wollen. Das Matheheft ist verziert mit Mäusen, die allerlei absurde Kunststückchen vollführen. Wie diese kleinen Zeichnungen von Aragones in meinen alten MAD-Heften, die Julia zusammen mit ein paar Comics vor einiger Zeit im Keller gefunden hat. Ihr Federmäppchen riecht noch immer nach Einschulung, dabei hat Julia dieses Jahr eine Empfehlung fürs Gymnasium bekommen. Sie war ganz aufgeregt, weil sie Angst
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