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Lebenslang

Lebenslang

Titel: Lebenslang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schwindt
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hatte, ohne ihre Freunde auf eine neue Schule gehen zu müssen.
    Auf dem Nachttisch liegt eine Ausgabe der Brüder Löwenherz . Aufgeschlagen ist es beim letzten Kapitel. Manchmal, so denke ich, ist die Welt voller Zeichen. Sie teilt sich einem durch kleine Dinge mit, man muss nur zuhören und genau hinschauen. Doch das will ich nicht. Ich klappe das Buch zu und stelle es zurück ins Regal. Wenn Julia wiederkommt, soll sie es weiterlesen. So lange werde ich einfach so tun, als hätte ich es nicht gesehen. Als ich gehe, lasse ich das Licht an, denn die Nacht bricht herein, dunkel und schwer.
    Oben in meinem Arbeitszimmer liegt noch immer das weiße Blatt Papier auf dem Zeichentisch. Und diesmal fällt es mir auch ohne Musik leicht, den ersten Strich für dieses Kinderbuch zu setzen. Aber ich übernehme nicht die Skizzen, die ich bereits vor Wochen von den Monstern gemacht habe. Die sind zu niedlich mit ihren zottigen Haaren, runden Bäuchen, dicken Nasen und traurigen Augen. Ich zeichne Julia, allein. Sie ist nicht das mutige Mädchen der Geschichte, die ich illustrieren soll. Sie hat Angst. Sie ruft nach mir, aber ich höre sie nicht, finde sie nicht. Taub und blind, lasse ich sie im Stich. Ein Blatt füllt sich nach dem anderen, der Strich wird immer ungeduldiger, bis ich nur noch große Augen in einem schmalen Gesicht zeichne. So, als hätte Ralph Steadman einen besonders schlechten Trip erwischt.
    Es klopft am Türrahmen. »Fabian?« Ich wirbele herum.
    »Was ist?«
    »Dieser Schumacher geht«, sagt Wieland.
    »Was heißt das: Er geht?«, will ich wissen und schaue auf die Uhr. Es ist kurz vor eins in der Nacht.
    »Er macht Feierabend.«
    Ich stehe auf und eile hinunter ins Wohnzimmer.
    Das Haus hat sich geleert, die Nachbarn sind nach Hause gegangen. Claudia Matuschka liegt auf der Couch, ihr Kopf ruht auf der Seite, die Augen sind geschlossen. Rufus, der zusammengerollt auf ihrem Schoß liegt, spitzt kurz die Ohren. Auf der Terrasse tanzen zwei rote Lichtpunkte in der Nacht. Olivers gedämpfte Stimme ist zu hören, aber ich verstehe nicht, worüber er spricht.
    Wieland und Astrid stehen bei Schumacher und seiner Kollegin, als würden sie einen Familienbesuch verabschieden.
    »Herr Steilberg, wir müssen jetzt leider gehen«, sagt Schumacher und knöpft sich die Uniformjacke zu. Er sieht müde aus. Seine Gesichtsfarbe ist grau.
    »Gehen? Wohin?«, frage ich.
    »Wir sind seit heute früh auf den Beinen und müssen noch einen Bericht schreiben.«
    Er fährt nach Hause, zu seiner Familie. Was habe ich erwartet? Dass er sich bei uns im Gästezimmer einquartiert? »Na dann«, sage ich hilflos, mir fällt keine bessere Antwort ein.
    »Sie bleiben nicht alleine«, sagt Schumacher. »Vor der Tür stehen zwei Streifenwagen.«
    »Wird denn weiter gesucht?«, fragt Wieland.
    »Nicht in der Nacht, nein. Das hätte wenig Zweck. Sobald es hell wird, setzen wir die Suche fort. Dann sehen wir uns auch wieder.« Er reicht mir die Hand, und ich drücke sie. Auch Polizeikommissarin März wünscht mir eine gute Nacht, errötet aber, als sie merkt, wie unangebracht dieser Wunsch ist.
    Dann gehen die Matuschkas. Robert bietet zwar an, bei uns zu bleiben, aber wir schicken beide nach Hause. Genau wie Oliver und Monique, die versprechen, sich für morgen freizunehmen.
    Nur Wieland bleibt. Und obwohl es niemand ausspricht, wissen wir, dass uns eine lange, nicht enden wollende Nacht bevorsteht.

A ls die Zehen ihres rechten Fußes auf einmal kalt wurden, ahnte sie schon, dass es gleich geschehen würde. Das Kribbeln stieg die Beine hinauf, der Körper fühlte sich mit einem Mal taub und wie eine leere Hülle an. Die Tüte mit den Einkäufen glitt aus ihren kraftlosen Fingern, fiel zu Boden und kippte um. Eine Milchflasche zerbrach mit einem dumpfen Klirren. Die weiße Flüssigkeit breitete sich auf dem Steinboden aus, floss in einem Rinnsal die Treppe hinab. Grüne Äpfel und rote Tomaten rollten herum und blieben wie tot liegen.
    Yvonne hatte das Gefühl, als würde sie in diesem Moment ihren Körper verlassen. Es war keine neue Erfahrung, aber das hatte sie in diesem Moment bereits vergessen. Ihr Körper wurde steif, verkrampfte sich, dann knickten ihre Beine ein, und sie fiel. Natürlich hatte sie keine Gelegenheit, die Arme auszustrecken und den Sturz auf irgendeine Art und Weise abzufangen. Sie schlug mit der Stirn auf die Kante der dritten Stufe und rutschte dann, mit den Schultern voran, hinab zum Treppenabsatz, wo in den Ecken

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