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Lebenslang

Lebenslang

Titel: Lebenslang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schwindt
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hinter sich ab. Was sie im Spiegel sah, war nicht dazu angetan, ihre Laune zu heben. Viel schlimmer als die Platzwunde auf der Stirn war diese kreisrunde Narbe von vielleicht einem Zentimeter Durchmesser oberhalb des rechten Ohres, die man nur sah, wenn man das ergrauende Haar auseinanderhielt. Ein Zentimeter. Mehr war es nicht.
    Doch das, was diese Narbe verursacht hatte, war noch immer da, steckte in ihr drin. Ein boshaftes rundes Stück Metall, durch den Zusammenprall mit dem Schädelknochen leicht verbeult.
    Das Projektil war aus einer Kleinkaliberwaffe abgefeuert worden. Das war das Einzige, was man wusste. Um mehr zu erfahren, hätte man die Kugel untersuchen müssen, aber das war nicht so einfach, denn sie hatte sich so tief in eine ungünstige Stelle ihres Gehirns gebohrt, dass eine Operation höchst riskant war. Vier Jahre lebte sie nun schon mit diesem kleinen Biest, das nur einen knappen Millimeter vor ihrem Stammhirn haltgemacht hatte.
    Es war bei einem Einsatz geschehen, damals, als sie noch bei der Polizei war. Das hatte man ihr zumindest gesagt, als sie aus dem künstlichen Koma erwacht war, in das man sie versetzt hatte. Wer auf sie geschossen hatte und warum er sie hatte töten wollen, war bis heute nicht geklärt worden.
    Damals war sie als andere Frau erwacht. Sie hatte zwar noch ihren Namen gewusst, ihre Telefonnummer, ihre Adresse und dass ihr Mann irgendwann vor Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Aber ansonsten waren ihre Erinnerungen alles andere als zusammenhängend.
    Besonders ihr Langzeitgedächtnis war nach einem nicht nachvollziehbaren Muster zerstört worden. Manche banalen Dinge waren noch präsent, andere wichtige Ereignisse hatte dieser bleierne Radiergummi erfolgreich ausgelöscht: Die Geburt ihres Sohnes lag ebenso im Dunkel des Vergessens wie die meisten Jahre, die sie mit Robert verbracht hatte.
    Aber selbst damit hätte sie sich abfinden können, wenn diese epileptischen Anfälle nicht gewesen wären, deren Intensität in den letzten Monaten zugenommen hatte.
    Begonnen hatte alles mit kleinen Absencen, so als hätten sich ihre Gedanken im Geflecht falsch geschalteter Neuronen verloren. Dann waren die Krampfanfälle gekommen. Erst waren es nur einzelne Muskelpartien gewesen, die plötzlich ein Eigenleben führten. Schließlich hatte ihr Gehirn dem ganzen Körper den Befehl gegeben, kurzzeitig den Betrieb einzustellen und unsinnige Dinge zu tun.
    Natürlich hatte sie unter diesen Umständen nicht mehr arbeiten können. Seit dem Anschlag hatte Yvonne keine Uniform mehr getragen. Zum Glück war sie verbeamtet gewesen und hatte sich um die Krankenversicherung und diverse andere kleine Absicherungen keine Sorgen machen müssen.
    Für Florian war es schwer gewesen, mit dieser neuen Yvonne zurechtzukommen, die wenig Lust verspürte, eine brave, frühpensionierte Polizistin zu sein, die ihren erwachsenen Sohn bemutterte, weil sie keinen anderen Sinn in ihrem Leben fand. Yvonne wusste nicht, ob ihr abweisendes Verhalten ihm und ihren Freunden gegenüber klug war oder dumm. Letztendlich war es ihr auch egal, denn sie wusste, dass sie keine andere Wahl hatte.
    Sie lebte von geborgter Zeit. Eine falsche Bewegung, ein Schlag auf den Kopf, und die Kugel würde doch noch ihr zerstörerisches Werk vollenden. Dass sie es heute nicht getan hatte, war reines Glück gewesen. Oder Unglück, je nachdem, wie man es betrachtete.
    Yvonne zog umständlich das blutverkrustete T-Shirt über den Kopf und untersuchte ihren schmächtigen Oberkörper, der nun übersät war mit blauen Flecken. Das Ziehen in der rechten Schulter hatte zwar nachgelassen, doch der Schmerz, den jede falsche Bewegung des Armes verursachte, war noch immer stechend. Sie entledigte sich der restlichen Kleidung und stieg in die Dusche, wo sie sich erst warm und dann kalt abbrauste. Die Haare zu waschen, ohne dabei die genähte Platzwunde in Mitleidenschaft zu ziehen, war schon etwas komplizierter, denn ihr Bewegungsradius war ziemlich eingeschränkt.
    Dreimal musste sie Shampoo einreiben, bis sich auch der letzte Rest getrockneten Blutes aufgelöst hatte und durch den Abfluss verschwunden war. Dann öffnete sie den Duschvorhang und rieb sich mit dem Handtuch trocken.
    Florian hatte vor der Tür gewartet.
    »Kann ich sonst noch etwas für dich tun?«, fragte er.
    Sie schüttelte den Kopf. »Ich gehe ins Bett. Drück mir die Daumen, dass ich heute Nacht schlafen kann.«
    Florian grinste sie breit an. »Die Chancen stehen

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