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Lebenslang

Lebenslang

Titel: Lebenslang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schwindt
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setzte, vermutlich um ihre Krankenakte aufzurufen. Als der Bildschirm die gewünschten Informationen zeigte, hob er die Augenbrauen und drehte sich langsam zu Yvonne um.
    »Eine Stammkundin«, stellte er fest und stand auf, um die klaffende Wunde genauer in Augenschein zu nehmen.
    »Aber nicht in der chirurgischen Ambulanz«, antwortete sie.
    »Sie hatten einen fokalen Anfall«, stellte er fest, während er die Haut um die Wunde herum reinigte. »Einfach oder komplex? Also ohne Bewusstseinseintrübung oder mit?«
    »Komplex«, sagte Yvonne.
    »Zum ersten Mal?«
    Yvonne nickte. »Eine Premiere.«
    Der Arzt machte eine leise Bemerkung, die Yvonne aber nicht verstand. »Was sagten Sie?«
    »Das muss genäht werden.«
    »Das hat mein Nachbar auch schon gesagt«, sagte Yvonne.
    »Ach, wirklich? Was ist er von Beruf?« Der Arzt stieß sich mit seinem Stuhl ab und rollte zu einem Schrank, um ein kleines Kästchen hervorzuholen.
    »Fotograf.«
    »Na, dann muss ich mich wohl über kurz oder lang nach einem neuen Job umschauen. Wollen Sie eine Betäubung? Ohne geht schneller.«
    »Dann nehme ich ohne. Schließlich möchte ich irgendwann nach Hause.«
    Der Arzt lachte. »Ich glaube nicht, dass Sie heute noch das Krankenhaus verlassen. In der Neurologie wartet man schon auf Sie.« Er streifte sich sterile Handschuhe über, zog einen Faden durch eine gekrümmte Nadel und begann mit seinem Werk. Der Schmerz war stechend, aber erträglich.
    »Sie haben Glück, dass ich mich auf solche Nähte spezialisiert habe«, sagte er konzentriert. »Man wird später kaum etwas sehen.«
    »Was Sie nicht sagen.« Yvonne war es egal, ob sie eine Narbe davontrug oder nicht. Ihre eigentlichen Probleme waren ganz anderer Natur.
    »So, fertig.« Der Arzt klebte ein weißes Pflaster auf die Wunde. »Passen Sie auf, wenn Sie sich die Haare waschen.« Er stand auf, streifte die blutigen Einmalhandschuhe ab und warf sie in den Mülleimer. »Dann schauen wir uns mal den Rest an.« Er zog ihr die Schuhe aus und drehte die Füße um ihre Gelenkachse.
    »Tut das weh?«
    Yvonne schüttelte den Kopf.
    Der Arzt arbeitete sich an den Extremitäten nach oben. »Sie sagen, wenn es zwickt?«
    Sie nickte und hielt die Luft an, aber sie schien Glück zu haben. Es war nichts gebrochen. Kein Band, keine Sehne war gerissen.
    »Ein paar schöne Prellungen haben Sie sich zugezogen«, sagte der Arzt, als er endlich von ihr abließ. »Spätestens morgen werden Sie aussehen wie ein überreifer Apfel. Die Gehirnerschütterung allerdings, die Sie sich zugezogen haben, ist bei Ihrer Vorgeschichte bedenklicher.« Er setzte sich wieder vor seinen Terminal und gab den Befund ein. »Jemand wird Sie zum Gebäude 93 bringen.«
    Yvonne stöhnte. Sie wusste, was sie dort erwartete.
    Die Tür ging auf, und ein Pfleger schob einen Rollstuhl herein. Gemeinsam mit dem Arzt hob er Yvonne von der Liege. Als sie auf den eigenen Beinen stand, brannten alle Muskeln in ihrem Körper. Die Arme um die Schultern ihrer Helfer gelegt, humpelte sie zu dem fahrbaren Untersatz, der sie zur anderen Seite des Klinikgeländes bringen würde.
    »Sie haben Glück im Unglück. Bei dem Sturz hätten Sie sich auch den Hals brechen können.« Der Arzt reichte ihr die Hand. Sein Griff war fest, er sah ihr in die Augen. »Alles Gute.«
    »Danke«, murmelte Yvonne.
    Der Pfleger schob sie hinaus auf den Flur, auf dem nun erstaunlich wenig los war. Die Hälfte der orangefarbenen Plastikstühle war leer. Der junge Bursche in der hellblauen Arbeitskluft schob Yvonne neben eine Sitzreihe und sagte: »Bin gleich wieder da. Ich muss nur noch etwas ausfüllen, dann geht es los.«
    Yvonne machte sich keine Illusionen. In einem Krankenhaus tickten die Uhren anders. Wenn ein Arzt oder eine Pflegekraft sagte, ich bin gleich wieder da, konnte schon mal eine halbe Stunde oder mehr vergehen. Sie versuchte, es sich so bequem wie möglich zu machen, als ihr Blick auf den Mann fiel, der ihr schräg gegenüber saß.
    Er war in einem erbärmlichen Zustand. Um die linke Hand trug er einen provisorischen Verband. Die Kleidung, eine beige Hose und ein blau kariertes kurzes Hemd, war schmutzig und zerrissen. Überall hatte er hässliche Schürfwunden, als wäre er aus einem fahrenden Auto gestoßen worden. Der Mann hatte ein Gesicht, das so unscheinbar war, dass es schwer zu beschreiben wäre. Die grauen Haare waren mittellang, schmutzig und blutverkrustet, der Bart akkurat geschnitten. Hemd und Hose entsprachen nicht der neuesten Mode,

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