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Lebenslang

Lebenslang

Titel: Lebenslang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schwindt
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nicht schlecht«, sagte er und zauberte aus seiner Hosentasche ein kleines Plastikdöschen mit bunten Ohrenstöpseln, das er ihr entgegenhielt.
    Jetzt musste sie wirklich lachen. »Du bist unbezahlbar«, sagte sie und umarmte ihn. »Ganz ehrlich, ich wüsste nicht, was ich ohne dich machen sollte.«
    »Ist schon okay.« Er sah auf seine Uhr. »Ich fahre dann mal nach Hause, morgen muss ich früh raus. Wenn etwas ist und du mich brauchst, ruf mich an.«
    »Das werde ich«, log sie.
    Florian gab ihr zum Abschied einen Kuss und ging.
    Leise schloss Yvonne die Zimmertür hinter sich und kroch ins Bett. Eine ihrer Zimmergenossinnen schnarchte unerbittlich, während eine andere beim Atmen pfeifende Geräusche von sich gab. Yvonne knetete zwei der Stöpsel zurecht und steckte sie sich in die Ohren.
    Himmlische Stille erfüllte ihren Kopf. Nur das eigene Atmen und Schlagen ihres Herzens hörte sie noch. Die Vorhänge waren nur halb zugezogen und gaben den Blick auf die Lichter der nächtlichen Stadt frei. Ab und zu blinkte das Positionslicht eines Flugzeuges am dunklen Himmel. Yvonne schloss die Augen, zog die Decke hoch und drehte sich auf die Seite. Drei Atemzüge später war sie eingeschlafen und träumte.
    Von dem unscheinbaren Mann mit dem grauen Bart.
    Und dem toten nackten Mädchen, das verwesend am Ufer eines Sees lag.

D ie Stunden der Nacht sind die schlimmsten, wenn die Gedanken um sich selbst kreisend den Tanz der Verzweiflung tanzen und man nichts, aber auch gar nichts dagegen tun kann. Wieland hat das Gästezimmer unter dem Dach bezogen und schläft. Wir werden ihn nicht wecken.
    Astrid sagt, dass sie einen Kaffee braucht. Es ist ihr zehnter oder zwölfter, ich habe aufgehört zu zählen. Sie wahrscheinlich auch. Während ich höre, wie in der Küche die Maschine gurgelt, stehe ich wieder in Julias Zimmer.
    Der Geruch meiner Tochter ist noch allgegenwärtig, eine vertraute Mischung aus Blumen und ungelüftetem Bett. Die Beamten haben ihr Zimmer auf der Suche nach irgendeinem verwertbaren Hinweis durchsucht. Sie sind vorsichtig und rücksichtsvoll vorgegangen, aber sie haben dennoch ihre Spuren hinterlassen. Ich bin wütend, auf eine hilflose Art und Weise. Ich weiß, dass sie alles in ihrer Macht Stehende tun, um meine Tochter zu finden, aber gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass sie das Zimmer, in dem Julia noch so lebendig ist, entweiht haben. Ich räume nicht auf, sondern lösche das Licht und schließe die Tür. Dann gehe ich hinunter zu Astrid.
    Sie hat den Kaffee mittlerweile in eine große Thermoskanne gefüllt, aus der sie sich eine Tasse einschenkt. Eine weitere Tasse steht leer auf der sauber gewischten Anrichte.
    »Ich wusste nicht, ob du auch eine wolltest«, sagt sie. Astrid hat tiefe Schatten um die Augen und weint nicht mehr. Ich nehme ihr die Tasse aus der Hand und umarme sie. Sie fühlt sich schwach und zerbrechlich an.
    Astrid spricht nicht viel. Das hat sie noch nie getan. Ohnehin teilen wir in diesem Moment dieselben Gedanken. Wir glauben zu wissen, dass Julia alleine in Todesangst nach uns ruft. Und dass ihr jemand etwas antut, von dem sie nicht versteht, warum er es tut. Diese Gedanken zerreißen mein Herz, denn die Angst treibt es an, schneller zu schlagen, atemlos zu hetzen, zu stolpern und sich wieder zu fangen. Astrid umschlingt meine Brust, aber nicht um mich festzuhalten, sondern um selbst nicht verloren zu gehen.
    »Lass uns gehen«, sage ich.
    »Wohin?«, fragt sie mich.
    »Raus«, sage ich nur, denn ich weiß: Wenn ich diese schlaflose Nacht hier im Haus verbringe, werde ich wahnsinnig.
    Ich hole aus der Küchenschublade eine Taschenlampe, dann gehen wir.
    Auf der anderen Straßenseite steht ein Streifenwagen. Der Beamte, der hinter dem Lenkrad sitzt, lässt die Scheibe herunter. Ich hebe die Hand, um ihm zu signalisieren, dass alles in Ordnung ist. Er nickt nur, lässt die Scheibe aber unten.
    Wir gehen den Weg, den ich an diesem Tag nun schon so oft abgesucht haben. Am Hort vorbei zum Supermarkt, vom Supermarkt zur Grundschule, dann durch die kleinen, rechtwinklig angeordneten Straßen zum Spielplatz im Park.
    Früher war sie oft hier. Erst mit uns, als sie noch ganz klein war, und dann mit ihren Freundinnen.
    Jetzt ist alles leer.
    Das Klettergerüst und die Rutsche ruhen wie die dunklen Knochen eines gewaltigen Urzeittieres im fahlen Licht des abnehmenden Mondes. Astrid und ich setzen uns auf die einsamen Schaukeln, halten uns bei der Hand und schweigen. Es ist kalt. Wir

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