Lebenslang
frieren. Keiner von uns hat eine Jacke mitgenommen. Das haben wir vergessen. Und auch wenn wir sie dabeigehabt hätten, würden wir sie nicht anziehen. Unsere Tochter friert in diesem Moment auch, warum also sollten wir es uns leichter machen.
Als die Kälte schließlich bis in unsere Knochen vorgedrungen ist, stehen wir auf und gehen weiter. Immer wieder leuchte ich mit meiner Lampe unter Büsche, in Vorgärten, hinter Mülltonnen. Ich tue es, weil ich irgendetwas tun muss. Noch habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben. Und ich werde es auch nicht tun, bis ich nicht weiß, was wirklich geschehen ist und die schlimmsten Befürchtungen sich bestätigt haben.
Wenn man Julia in ein Auto gezerrt hat, so denke ich, kann sie jetzt überall sein. Ich versuche, einen kühlen Kopf zu bewahren, logisch zu denken, mich nicht von meinen Gefühlen überrennen zu lassen. Die Kontrolle zu behalten.
Es fällt mir schwer, mein Gott. Es fällt mir so schwer.
Auch Astrid ist verstummt. Wir beide haben unser Leben immer wie ein Projekt gesehen, haben das getan, was getan werden musste. Manchmal frage ich mich, ob wir uns tatsächlich lieben. Aber wir passen zueinander. Denke ich. Das ist schon viel, doch ich frage mich, ob das reichen wird. Wir sind sprachlos. Es fehlen nicht nur die Worte, um uns gegenseitig zu trösten. Es fehlt uns auch die Vertrautheit. Ich weiß nicht, ob Astrid wirklich ihre postnatale Depression überwunden hat. Sie hat nie mit mir über diese schwere Zeit gesprochen, sondern immer nur stumme Hilfeschreie ausgesandt. Sie war eine Insel, die man nur schwer erreichen konnte. Eine Nadel der Kleopatra, schlank und schön und rätselhaft. Nähe lässt sie nur selten zu. Dieses Geheimnisvolle an ihr, das ich lange als Stärke und Unabhängigkeit gedeutet habe, hat mich magisch angezogen. Bis Julia geboren wurde.
Da musste ich mir eingestehen, dass Astrid nicht stark war, ganz und gar nicht, sondern das, was ich für Unnahbarkeit hielt, eigentlich Verschlossenheit ist. Auch jetzt öffnet sie sich mir nicht, obwohl ich mit ihr über meine Angst sprechen will. Doch was gäbe es zu sagen, das diese Angst erträglicher machte? Nichts, außer kleinen Gesten und dem gemeinsamen Schweigen, das ihr zu genügen scheint. Ich frage mich, ob sie gefasst oder innerlich erstarrt ist. Obwohl wir einander vielleicht noch nie so nah waren wie jetzt in dieser Nacht, fühle ich nur, was uns trennt, und nicht, was uns miteinander verbindet.
Es wird hell, als wir nach Hause kommen. Ich öffne die Haustür, während Astrid stehen bleibt und Julias schwarze Schuhe, die achtlos vor einem Blumenkübel liegen, ordentlich hinstellt. Es ist eine automatische Geste, und ich glaube, dass sie in diesem Moment nicht darüber nachdenkt, was sie tut und warum sie es tut.
Noch immer ist im Haus alles still. Ich schenke zwei neue Tassen Kaffee ein. Wir haben noch Brot vom gestrigen Nachmittag übrig, aber keiner von uns beiden hat Hunger. Astrid setzt sich an den Esszimmertisch und starrt in ihren Becher, während ich die Terrassentür öffne.
»Glaubst du, dass Julia noch lebt?«, fragt sie, ohne aufzuschauen. Die eine Frage, die ich nicht beantworten kann. Auf die auch die Polizei keine Antwort hat.
»Ich weiß es nicht«, sage ich. Der Himmel ist im Osten violettrot gefärbt. Die Vögel singen und scheren sich einen Scheißdreck um uns.
»Haben wir alles richtig gemacht?«
»Wie meinst du das?« Ich nippe an meiner Tasse und drehe mich zu ihr um. »Machst du dir irgendwelche Vorwürfe?«
Astrid schweigt.
»Ich wüsste nicht, woran wir uns die Schuld geben sollten.«
Astrids Mund wird zu einem bitteren Strich.
»Oder bist du anderer Meinung?« Ich ging wieder hinein und schloss die Tür hinter mir. »Worüber hast du dich mit ihr gestern gestritten?«
Astrid zuckt kaum wahrnehmbar mit ihren Schultern. »Das Übliche.«
»Worüber?«
»Ich habe nur von ihr erwartet, was ich auch von mir selbst verlange«, sagt Astrid und sieht mich erst jetzt an.
Nun schweige ich, denn dies ist nicht der richtige Augenblick, um sich gegenseitig Schwächen vorzuwerfen, die ihre Wurzeln in falschen Erwartungen ans Leben haben. Ich nehme mich davon nicht aus. Aber wir streiten oft darüber, wie wir Julia erziehen sollen.
»Dass Julia nicht nach Hause gekommen ist, hat nichts mit dir oder mit mir zu tun. Dessen bin ich mir sicher.«
»Glaubst du, dass ich eine gute Mutter bin?«
»Du liebst deine Tochter.«
»Natürlich.«
»Dann bist du eine gute
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