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Lebenslang

Lebenslang

Titel: Lebenslang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schwindt
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sahen aber auch nicht so aus, als hätte man sie in einer Kleiderkammer der Arbeiterwohlfahrt gekauft. Die Schuhe waren aus braunem Kunstleder, billig, jedoch nicht abgetragen.
    Yvonne sah in zwei blaue Augen, die sie kühl und ausdruckslos musterten. Ihr Herz schlug durch das unvermutet ausgeschüttete Adrenalin heftiger, ihre Hände begannen zu schwitzen, die Beine zitterten.
    Erst dachte sie, ein neuer Anfall kündigte sich an, aber das war es nicht. Sie spürte nicht die Aura, die sie sonst umgab, bevor sich ihre Gedanken verloren oder die Muskeln krampften. Es war dieser Mann, der sie an den Rand einer bodenlosen Panik stieß.
    Ihr Atem ging schneller, und trotzdem glaubte sie, ersticken zu müssen. Die Hände umklammerten die Armlehnen des Rollstuhls. Sie wollte aufstehen, aber dazu fehlte ihr die Kraft.
    Jetzt wurde auch ihr Gegenüber unruhig. Der Mann erhob sich langsam und machte einen Schritt auf sie zu. Das linke Bein zog er dabei nach. Er stellte sich vor sie hin, nicht unsicher, sondern neugierig, so als wollte er sich einer bestimmten, plötzlich aufkommenden Erkenntnis vergewissern.
    Das Zittern ihres Körper wurde stärker, als er sein Gesicht nah an ihres brachte. Sie roch nichts. Keinen Schweiß, kein Aftershave, kein Deo. Selbst sein Atem hatte keinen Geruch. Und trotzdem löste sein Anblick etwas in ihr aus. Für einen kurzen Moment sah sie den grässlich zugerichteten Körper eines kleinen Mädchens, nackt und schmutzig. Im langen Haar, das zu einem Pferdeschwanz gebunden war, hatte sich Laub verfangen. Mücken surrten hell im Licht einer niedrig stehenden Sonne. Dann war das Bild verschwunden, wie bei einem Fernseher, den man ausgeschaltet hatte, weil man der Wiederholungen, die im Spätprogramm gezeigt wurden, überdrüssig geworden war.
    Der Mann war fort, der Platz vor ihr leer. Yvonne reckte sich in ihrem Rollstuhl in die Höhe und schaute den Korridor hinab. Sie glaubte zu sehen, wie der Mann um die Ecke humpelte und verschwand.
    »Tut mir leid, wenn es etwas länger gedauert hat«, sagte eine Stimme hinter ihr. Der Pfleger, der nun einen Stapel Papiere unter dem Arm trug, löste die Bremse an ihrem Rollstuhl. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«
    »Wer war das?« Ihre Stimme war schwach und rau.
    »Wen meinen Sie?« Der Pfleger bugsierte den Rollstuhl von der Wand weg.
    »Der Mann, der mir gegenübergesessen hat.«
    Er zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich habe niemanden gesehen.« Der Pfleger warf ihr die Papiere in den Schoß, packte die beiden Griffe und schob Yvonne den Korridor hinunter, bis sie die Fahrstühle erreichten. Yvonne schaute sich um und verrenkte sich dabei fast den Hals. Aber der Mann war fort.
    Der Pfleger drückte auf einen Knopf, und sie warteten. Mit einem leisen ›Ding‹ glitten die Türen auf. Es holperte ein wenig, als der Rollstuhl über die Schwelle gedrückt wurde. Das Innere des zweitürigen Lifts war verspiegelt, sodass sich die Reflexion in der Unendlichkeit verlor.
    Yvonne erschrak, als sie sich sah. Das Blut in ihrem Haar war mittlerweile getrocknet und ließ es auf der rechten Seite nach allen Seiten abstehen. Der Arzt hatte zwar ihr Gesicht gesäubert, sich aber nicht sonderlich dabei angestrengt, denn ihr rechtes Ohr war dunkel verkrustet. Die Wunde auf der Stirn war dick geschwollen, das konnte man sogar unter dem Pflaster erkennen. Auf dem rechten Oberarm bildeten sich die ersten Hämatome. Das T-Shirt sah aus, als hätte sie in Blut gebadet.
    Der Lift fuhr ein Stockwerk hinab ins Erdgeschoss. Zeit genug für den Pfleger, sich einen Streifen Kaugummi in den Mund zu schieben.
    Yvonne hatte gedacht, sie würden das Hauptgebäude über die Lobby verlassen, aber offensichtlich kannte der Bursche eine Abkürzung, die nur für das Personal gedacht war. Sie verließen das Hauptgebäude auf der rückwärtigen Seite, und Yvonne musste die Augen schließen, als die tief stehende Sonne ihr genau ins Gesicht schien.
    Yvonne hatte ein ungutes Gefühl, als sie Gebäude 93 betraten. Doch anstatt sie ins Untergeschoss zu bringen, fuhr der Pfleger mit ihr hinauf zur neurologischen Station, wo er den Rollstuhl vor dem Schwesternzimmer abstellte.
    »Was soll ich hier?«, fragte Yvonne. »Ich dachte, Sie fahren mich zum CT!«
    Der Pfleger runzelte die Stirn und schaute sie an, als hätte der Sturz mehr als nur eine Platzwunde bei ihr verursacht. »Es ist halb zehn. Um diese Zeit werden keine Untersuchungen mehr durchgeführt. Da müssen Sie schon bis morgen früh

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