Lebenslang
CT-Auswertung entwickelt hatte. Zumindest, was ihren Kopf anging. Für Außenstehende sahen die Schichtaufnahmen mit Ausnahme des irritierenden Fremdkörpers vermutlich normal aus. Doch Yvonne konnte die Bilder mittlerweile wie eine Landkarte lesen. Sie stand auf und trat näher heran. Etwas hatte sich verändert. Die Konturen des Projektils waren hellgrau unterlegt.
»Stimmt«, sagte Dr. Baumann. »Die Lage hat sich nicht verändert, und das ist die gute Nachricht.«
»Aber es gibt auch noch eine schlechte, nicht wahr?«, fragte Yvonne.
Der Arzt nickte. »Ich befürchte, dass Sie einen Hirnabszess entwickeln.«
»Ein Hirnabszess? Was ist das?« Sie spürte, wie ihre Hände kalt wurden.
»Eine lokale Entzündung des Gehirns. Man nennt sie auch Herdenzephalitis. Die Ursache ist meist ein eingeschleppter Keim durch ein Schädelhirntrauma.«
Yvonne betrachtete die Röntgenaufnahmen genauer und fasste sich an die Stelle über ihrem rechten Ohr, wo die Kugel eingedrungen war. »Aber das ist jetzt vier Jahre her«, sagte sie.
»Das ist in der Tat etwas, was mich irritiert, aber es ist nicht ungewöhnlich«, sagte Dr. Baumann. Seine Stimme war sanft, doch nicht mitleidig. Dass er ihr stets die Wahrheit sagte, war ein Zug, den Yvonne sehr an ihm schätzte.
»Und was hat das für Konsequenzen?«, fragte sie und tastete sich wieder zu dem Stuhl, der ihr dieses unangenehme Schwindelgefühl bereitete.
»Ich müsste Sie operieren«, sagte er und hob die Hand, als Yvonne den Mund öffnete, um etwas darauf zu erwidern. »Ich weiß, wie Sie dazu stehen. Der Erfolg einer solchen Operation liegt bei fünfzig Prozent. Und damit ist immer noch nicht garantiert, dass nicht doch bleibende Schäden auftreten werden.«
»Was wäre die Alternative?«
Dr. Baumann runzelte die Stirn. »Die Einnahme von Antibiotika. Sie hätte in jedem Fall angestanden. Aber ohne eine Sanierung des Entzündungsherdes wird der Erfolg dieser Behandlung zweifelhaft sein.« Er schwieg einen Moment. »Wollen Sie meine ehrliche Meinung hören?«
»Ich bitte darum.« Das klang forscher, als sie sich fühlte.
»Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie an diesem Abszess sterben, liegt höher als bei einer Operation. Glauben Sie mir das. Außerdem werden Sie spüren, wenn diese Entzündung wächst. Sie wird gesunde Gehirnmasse verdrängen. Anfangs sind die Ausfallerscheinungen gering, aber je nachdem, welcher Bereich Ihres Gehirns betroffen wird, kann Ihr Sterben auch hässlich werden.« Er beugte sich nach vorne und stützte sich auf die Unterarme. Eindringlich sah er in ihre Augen. »Ich kenne Sie jetzt schon so lange, und ich habe Sie immer als Kämpfernatur eingeschätzt. Ich rate dringend zu der Operation.«
»Ich möchte es erst einmal mit einem Antibiotikum versuchen«, sagte sie.
Dr. Baumann schaute sie einen langen Moment an. »Okay«, sagte er schließlich und schrieb etwas auf einen Rezeptblock. »Es wird eine langwierige Behandlung. Und Sie werden diese Tabletteneinnahme strengstens einhalten müssen.« Er schob ihr den grünen Schein über den Tisch. »In einer Woche sehen wir uns wieder?«
Yvonne nickte, faltete den Zettel zusammen und steckte ihn in ihre Hosentasche.
»Und sollte es Ihnen schlechter gehen, rufen Sie mich sofort an. Sie wissen, dass Sie auch immer kurzfristig einen Termin bekommen können?« Er stand auf und reichte Yvonne die Hand.
»Wann kann ich nach Hause gehen?«, fragte sie.
»Noch heute. Ich werde alles veranlassen.«
Yvonne hatte ihre Sachen schnell gepackt. Doch bevor sie zum Taxistand ging, machte sie einen erneuten Abstecher in die chirurgische Ambulanz, wo zu dieser Zeit des Tages zwei Dutzend Männer und Frauen darauf warteten, dass man sich um ihre größeren und kleineren Verletzungen kümmerte. Es war heiß und stickig in der Vorhalle. Manche der Patienten schienen schon länger zu warten, denn auf ihren Gesichtern zeigten sich Müdigkeit und Ungeduld. Yvonne stellte sich in die Reihe vor der Anmeldung und wartete, bis sie an der Reihe war. Die Frau hinter dem Schalter sortierte einige Blätter in die dazugehörigen Mappen und blickte dann zu ihr auf.
»Entschuldigen Sie, aber ich habe eine etwas ungewöhnliche Bitte«, sagte Yvonne. »Man hat mich gestern hier in die Ambulanz gefahren, weil ich eine Platzwunde am Kopf hatte.« Wie um ihre Worte zu unterstreichen, strich sie sich mit den Fingern über das Pflaster auf der Stirn. »Zur selben Zeit haben Sie einen Mann behandelt. Graue Haare, grauer Bart, Anfang
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