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Lebenslang

Lebenslang

Titel: Lebenslang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schwindt
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Ihre Stimme klingt hart, trotzig.
    »Darf ich lesen, was du dir aufgeschrieben hast?« Ich strecke meine Hand aus. Astrid gibt mir den Zettel.
    Er ist doppelt gefaltet und kein Redemanuskript. Astrid hat noch nicht einmal Stichworte niedergeschrieben. Was ich auseinanderfalte, ist eine Zeichnung, die Julia uns zum zehnten Hochzeitstag geschenkt hat. Es ist ein wunderschönes Bild von uns als Familie. Vater, Mutter und in der Mitte das Kind. Wir halten einander an den Händen, und man kann uns sogar erkennen. Am Himmel steht das fröhliche Gesicht einer Sonne. Die Strahlen sind lang und durchdringen alles. Julia hat auch einen Hund gezeichnet. Sie hat sich immer einen Labrador gewünscht, einen Familienhund. Ich wollte nie einen, weil ich befürchtete, dass Astrid und ich die beiden wären, die nachher die Hundehaufen aufsammeln müssten. Ich gebe mir das Versprechen, Julia diesen Hund zu kaufen, mag im Mietvertrag stehen, was will. Wenn sie lebt, soll sie diesen Labrador bekommen, und meinetwegen kann sie ihn dann auch Norbert nennen, wie sie es immer vorhatte.
    Bertram kommt mit Schumacher zurück. Ich habe den Polizisten heute noch nicht gesehen und erschrecke, als ich in sein übernächtigtes Gesicht schaue.
    »Sind Sie sicher, dass Sie das tun wollen?«, fragt er Astrid.
    Sie nickt energisch. Wieland ist jetzt von seinem Platz aufgestanden. »Sollen wir dich begleiten?«
    »Das muss ich alleine tun.«
    Alle Blicke richten sich auf mich. Ich vergrabe die Hände in meinen Hosentaschen und wende mich ab. Bertram schaut uns an, als würde er sich im Geiste genau notieren, wie wir uns verhalten. Wir stehen unter Beobachtung. Von allen Seiten. Und nun öffnet Astrid eine Tür, von der ich nicht weiß, ob sie sich später wieder schließen lässt.
    Schumacher begleitet sie hinaus. Ich folge den beiden bis zur Haustür, schließe sie nicht, sondern lehne sie so weit an, dass ich durch den Spalt hinausschauen kann. Von hier aus kann ich die Reporter nicht sehen, sondern nur hören. Es müssen viele sein. Astrid sehe ich nur von hinten.
    Mikrofone werden ihr entgegengereckt. Kameras klicken. Scheinwerfer flammen auf. Wie viele es sind, kann ich nicht erkennen. Schumacher und Bertram stehen neben ihr, als wären die beiden Männer ihre persönliche Prätorianergarde. Ich muss mich anstrengen, um Astrids Worte zu verstehen, denn sie spricht leise und stockend. Sie hat die Zeichnung tatsächlich wie ein Redemanuskript aufgefaltet.
    »Wer immer meine Tochter entführt hat …« Sie stockt, räuspert sich und beginnt wieder von vorne. Diesmal etwas lauter. Ihre Stimme klingt dadurch nicht fester. »Wer immer meine Tochter entführt hat, ich flehe Sie an: Bitte, geben Sie uns unser Kind zurück. Ich spüre, dass sie im Moment an einem Ort ist, an dem sie Angst hat, Schmerzen erleidet, nach uns ruft.« Ihre Stimme bricht. Kameras klicken. »Julia ist ein gutes Kind, ein liebes Mädchen, das niemals jemandem ein Leid zugefügt hat. Sie braucht uns, genauso, wie wir sie brauchen. Ohne einander können wir nicht leben. Tun Sie unserer Kleinen nichts an. Lassen Sie sie gehen. Lassen Sie sie nach Hause kommen. Sie ist alles, was wir haben.« Die letzten Worte werden von einem lauten Schluchzen verschluckt. Ich habe einen Knoten im Hals. Meine Augen brennen. Mein Herz will aufhören zu schlagen.
    Schumacher nimmt Astrid in den Arm. »Ich danke Ihnen«, sagt er zu den Reportern.
    Gemeinsam mit Bertram bringt er Astrid, die ihr Gesicht in den Händen vergraben hat, wieder zurück. Die Farben der Zeichnung sind durch ihre Tränen verwischt worden. Ich nehme Astrid in den Arm und drücke sie, so fest ich kann. Diesmal lässt sie es zu.
    Gemeinsam gehen wir zurück ins Wohnzimmer. Alle weinen jetzt. Vorsichtig, als handelte es sich dabei um einen wertvollen Schatz, legt sie die Zeichnung auf den Wohnzimmertisch. Bertram versucht mit ihr zu sprechen, aber sie ignoriert ihn. Stattdessen schaut Astrid jeden von uns an. Dann geht sie wieder hinauf ins Schlafzimmer. Die Tür fällt ins Schloss. Ich lasse mich in einen Sessel fallen, beuge mich nach vorne und massiere meinen Nacken. Vierundzwanzig Stunden ist Julia jetzt verschwunden, einen ganzen Tag. Es wird kaum noch miteinander gesprochen. Alles, was es zu sagen gibt, ist gesagt. Der Rest wäre nur eine quälende Wiederholung. Wir können nur warten. Warten und hoffen, dass nicht das Schlimmste eintritt.

» O kay«, sagte die Stimme aus der Gegensprechanlage. »Nicht atmen. Nicht

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