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Lebenslang

Lebenslang

Titel: Lebenslang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schwindt
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Grund der Dinge vor. Als die Haare nur noch borstige Stoppeln waren, verteilte sie Rasiergel auf dem Kopf und ließ ihren Ladyshave den Rest der Arbeit erledigen. Die Kopfhaut brannte, als sie sie mit einem Handtuch abwischte. Yvonne war enttäuscht, als sie die kleine Erhebung über dem rechten Ohr sah, die so harmlos, so unbedeutend wie eine Hautveränderung aussah.
    Doch darunter löste sich das, was ihre Persönlichkeit, ihr Wesen, ihren Charakter ausmachte, langsam auf.
    Sie hatte einmal gelesen, dass das Gehirn die Konsistenz von weicher Butter hat. Diese Butter schien jetzt von innen heraus zu schmelzen. Erstaunt stellte Yvonne fest, dass sie weinte. Sie nahm sich ein Stück Klopapier und schnäuzte sich die Nase. Sie würde sterben.
    Nüchtern ging sie noch einmal alle möglichen Optionen durch. Es war eine ganz einfache Rechnung.
    Entweder konnte sie den Dingen ihren Lauf lassen, doch dazu hatte sie nicht die Kraft. Das wusste sie.
    Oder sie konnte die Sache beschleunigen und selber in die Hand nehmen. Wenn sie diesen Weg ging, musste sie sich vielleicht beeilen, denn Yvonne wusste nicht, wie lange sie noch Herrin ihres Verstandes sein würde. Sie konnte sich von einer Brücke stürzen, vor einen Zug werfen, sich erhängen oder aber erschießen. Yvonne war noch immer im Besitz einer Waffe. Das Resultat wäre eine alles andere als schöne Leiche. Nicht, dass sie das gestört hätte, aber sie dachte an die Menschen, die sie finden würden. Yvonne mochte zwar verzweifelt sein, verantwortungslos war sie nicht.
    Die dritte Möglichkeit war jene riskante Operation, zu der sie Dr. Baumann schon seit Jahren drängte, deren Erfolg aber mehr als ungewiss war. Jedenfalls hatte sie keine Lust, den Rest ihres Lebens, so lang oder so kurz er auch sein mochte, hilflos in geistiger Umnachtung zu verbringen.
    Sie nahm die Haare aus dem Waschbecken und stopfte sie in den kleinen Mülleimer, der neben dem Badezimmerschrank stand. Erst als sie die letzten Strähnen entfernt und das Becken mit einem feuchten Stück Klopapier ausgewischt hatte, zog sie den Stöpsel aus dem Ausguss. Sie fühlte sich müde, so müde, dass sie sich ins Schlafzimmer schleppte und ins Bett legte.
    Der Schlaf war ihre Zuflucht geworden, schon seit Langem. Sie wickelte sich in die Bettdecke, schloss die Augen und hoffte, dass sie eventuell nicht mehr aufwachen würde. Es war ein frommer Wunsch, von dem sie wusste, dass er nicht in Erfüllung gehen würde.

D ie Hölle ist schwarz wie die Nacht, die ich ein weiteres Mal schlaflos verbringe. Astrid und ich haben uns gestritten. Im Gegensatz zu ihr muss ich über Julia sprechen, über ihr Lachen, das mir fehlt, ihre altkluge Art, in der sie mit uns redete. Wie sie sich morgens immer ihre Nutellabrote schmierte und dabei unentwegt plapperte und lachte, weil sie sich auf den Tag freute, der auf sie wartete. Ihre Bemühungen, erwachsen zu sein und dabei doch Kind zu bleiben.
    Zehn Jahre ist ein wunderbares Alter. Man glaubt noch an Wunder, fühlt sich unsterblich und voller Leben. Sicher und geborgen.
    Unter der Woche war es schwer, sie zu wecken, aber am Wochenende war Julia immer vor uns auf, krabbelte in unser Bett und scherte sich einen Teufel darum, ob wir noch schlafen wollten oder nicht. Dann erzählte sie uns von ihren Träumen, die sie in der Nacht hatte.
    Noch vor zwei Tagen waren diese Nächte ohne Schrecken gewesen, sondern nur lange Pausenzeichen zwischen sonnenhellen Tagen, die alles versprachen und für Julia alles hielten. Sie war ein groß gewachsenes Mädchen, lange Beine und kurze Arme. Kastanienbraunes Haar, das nach einer sorglosen Kindheit roch. Mit Augen, denen nichts entging. Immer suchte sie Nähe, warmen Körperkontakt und schenkte kindliche Zuneigung. Sie wusste, dass sie die Sonne war, um die wir uns drehten, in deren Schein wir glücklich waren. All das will ich Astrid sagen, doch sie hört nicht zu, sondern weint und sagt, ich solle endlich still sein. Sie könne es nicht ertragen. Ich frage sie, was sie nicht ertragen könne. Wir liegen auf unserem Bett, jeder auf seiner Seite. Als sie mir keine Antwort gibt, frage ich, warum sie nicht mit mir sprechen will.
    Sie antwortet nur, dass sie es unerträglich findet, wenn ich von Julia spräche, als sei sie schon tot.
    In dieser Nacht, der zweiten ohne Schlaf, sind wir allein im Haus. Wieland ist schon am Nachmittag gefahren, kurz nachdem Astrid zur Presse gesprochen hat. Er wollte suchen helfen. Meine Eltern wurden von Astrid in ein

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