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Lebenslang

Lebenslang

Titel: Lebenslang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schwindt
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oder Mitte fünfzig. Kariertes Hemd, beige Hose.«
    Die Frau runzelte nachdenklich die Stirn. »Ja, und?«
    »Der Mann ist ein Bekannter von mir«, log Yvonne. »Wir haben uns lange aus den Augen verloren, und bevor ich ihn ansprechen konnte, war er verschwunden.«
    Die Schwester schaute sie aus schwarzen Knopfaugen misstrauisch an. »Dann kennen Sie ja sicher seinen Namen.« Sie war nicht groß und wirkte ein wenig plump, hatte aber das Selbstbewusstsein einer Frau, die den ganzen Tag mit fremden Menschen zu tun hat.
    »Natürlich kenne ich den.«
    Die Schwester machte eine auffordernde Geste, nachdem sie ein Krankenblatt aus einer Schublade gezogen hatte.
    »Oliver Gerlach«, sagte Yvonne, obwohl der Name so falsch war wie jeder andere auch.
    »Sind Sie sich da sicher?«
    »Absolut«, sagte Yvonne mit einer Stimme, die jeden Zweifel aus dem Weg räumen sollte. »Immerhin haben wir drei Jahre im selben Büro gearbeitet.« Sie reckte vorsichtig den Kopf, um auf das Krankenblatt zu schauen. Die Schwester, die auf einmal Yvonnes Neugierde bemerkte, drehte hastig das Krankenblatt um.
    »Sie wissen, dass ich Ihnen diese Informationen nicht geben darf?«
    »Oh, Entschuldigung. Nein, das wusste ich nicht.« Yvonne versuchte, so freundlich wie möglich zu lächeln, und das Gesicht der Frau entspannte sich. Yvonne hatte durch einen raschen Blick ohnehin erfahren, was sie wissen wollte. Der Mann, der gestern bei ihrem Anblick so hastig gegangen war, hieß Georg Winkler und wohnte in Bad Vilbel.
    Georg Winkler, dachte Yvonne, als sie in den Kaffeeautomaten zwei Münzen steckte und den Knopf für Cappuccino drückte. Ein Plastikbecher fiel herunter in das Ausgabefach und füllte sich erst mit heißer, aufgeschäumter Milch, die dann mit einer dunkelbraunen Flüssigkeit versetzt wurde. Yvonne setzte sich auf einen Stuhl, der in der Besucherecke stand, und versuchte, sich das wenig markante Gesicht wieder in Erinnerung zu rufen, doch es gelang ihr nicht. Die grauen Haare und der sorgsam gestutzte Bart hatten den Gesamteindruck der Erscheinung dominiert. Außerdem hatten die Verletzungen, die er davongetragen hatte, zu sehr von den anderen Körpermerkmalen abgelenkt. Nur die blauen Augen, die sie so durchdringend fixiert hatten, hätte sie genau beschreiben können.
    Ihre Arme zitterten, und dieses Zittern übertrug sich wie eine Wellenfront auf den ganzen Körper. Erstaunt betrachtete sie ihre Hände. Der Kaffee im halb vollen Becher schwappte gefährlich. Yvonne atmete flacher und hektischer, der Puls begann zu rasen. Das war kein epileptischer Anfall, der sich mit einer Aura ankündigte. Sie stellte den Becher ab, stieß ihn aber dabei um, sodass sich die hellbraune Flüssigkeit auf dem Tisch verbreitete, wo sie von den abgegriffenen Zeitschriften aufgesogen wurde. Blicke richteten sich auf sie.
    Yvonne griff nach der Tasche, die ihr Florian gebracht hatte und in der ihre Habseligkeiten verstaut waren. Sie stand mit einer ruckartigen, steifen Bewegung auf, wobei sie beinahe über das bandagierte ausgestreckte Bein eines Mannes gestolpert wäre, der ihr gegenübersaß.
    Yvonne murmelte eine Entschuldigung und hastete durch die Glastür hinaus ins Freie, wo die heiße Sommerluft sie augenblicklich umfing. Die Sonne brannte hell von einem blauen Himmel, und für einen kurzen Moment war sie wieder bei dem kleinen toten Mädchen, das ausgestreckt auf dem Bauch an diesem klaren See lag, eine von dicken Fliegen befleckte Unschuld. Jetzt glaubte sie sogar, den Geruch der Verwesung riechen zu können, schwer und braun und drückend. Speichel sammelte sich in ihrem Mund. Yvonne schluckte ein paarmal, dann übergab sie sich neben einem Mülleimer an einer Straßenecke, verspürte aber keine Erleichterung.
    Keuchend wischte sie sich den Mund ab. Sie taumelte weiter, spuckte noch einmal aus und suchte im Seitenfach ihrer Tasche nach Tic Tacs oder einem Pfefferminzbonbon, doch natürlich hatte sie weder das eine noch das andere dabei. Es war lange her, dass sie eine dieser scheinbar grundlosen Panikattacken heimtückisch von hinten angefallen hatte, doch alte Bekannte machten gerne Überraschungsbesuche.
    Yvonne wankte auf den Taxistand zu und stieg in einen Mercedes. Aus dem Radio plärrte die Liveübertragung eines Vorrundenspiels, die auch nicht leiser gedreht wurde, als sie sich auf den Rücksitz fallen ließ.
    »In die Souchaystraße«, sagte sie. Der Fahrer beäugte sie kurz im Rückspiegel und schaltete das Taxameter ein.
    Der Weg war

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