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Lebenslang

Lebenslang

Titel: Lebenslang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schwindt
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nicht weit, eigentlich sogar eine Kurzstrecke, aber Yvonne sah sich nicht in der Lage, die wenigen Hundert Meter zu Fuß zurückzulegen, obwohl sie sich das eigentlich vorgenommen hatte. Drei Minuten später bezahlte sie zehn Euro, wobei sie noch ein deftiges Trinkgeld drauflegte, und stieg aus.
    Im Gegensatz zu anderen Teilen der Stadt war dieses Viertel Sachsenhausens eine mehr oder weniger fußballfreie Zone. Nur einige Autos waren geschmückt, und die Balkone, von denen schwarz-rot-goldene Fahnen hingen, konnte man an den Fingern einer Hand abzählen.
    Yvonne schloss die Haustür auf und betrat das Treppenhaus. Leise stieg sie die knarrenden Stufen hinauf zu ihrer Wohnung, die im ersten Stock lag. Sie war froh, dass sie damals nicht unters Dach gezogen waren, obwohl dort die Wohnung zwei Zimmer mehr hatte. Einmal hatten sie sich diesen Luxus auch mit Roberts Gehalt nicht leisten können, und zum anderen waren sechs Stockwerke in einem Altbau nicht zu unterschätzen, wenn man seine Einkäufe hinaufschleppen musste.
    Yvonne konnte sich erstaunlicherweise noch an die Besichtigung erinnern, doch dass sie dann die kleinere Wohnung im ersten Stock genommen hatten, davon zeugte nur noch ihrer beider Unterschrift auf dem Mietvertrag. Da, wo normalerweise die Erinnerung an den Umzug hätte sein müssen, war nichts mehr. Noch nicht einmal ein schwarzes Loch. Wie so viele andere Dinge in ihrem Leben war auch diese Zeit einfach ausgelöscht worden.
    Im Prinzip war ihr Leben wie ein Theaterstück, bei dem man den zweiten Akt gestrichen und den ersten nur unvollständig aufgeführt hatte. Der rote Faden erschloss sich ihr nicht, sosehr sie sich auch anstrengte und auf ihr fragmentarisches Leben zurückschaute. Kaum etwas passte zusammen. Zwar hatte Florian versucht, ihre Gedächtnislücken anhand von Fotos, Filmen und endlosen Gesprächen zu füllen. Aber meist hatte sie das Gefühl gehabt, etwas über das Leben einer Fremden zu erfahren. Einer Frau, die nur zufällig denselben Namen trug und dieselbe Steuernummer hatte.
    Es berührte sie nichts. Weder die Bilder vom Urlaub an der Nordsee, als sie eine junge Familie gewesen waren, noch die Briefe, die Yvonnes verstorbener Mann ihr geschrieben hatte, als es noch keine E-Mails gab.
    Yvonne hatte lange mit sich gekämpft und überlegt, was sie mit diesen Andenken und Erinnerungen aus zweiter Hand anfangen sollte. Eigentlich hätte sie sie am liebsten weggeworfen, hatte sich aber schließlich mit Florian darauf geeinigt, sie fein säuberlich in Kisten zu packen und im Keller zu verstauen, bis er eine Wohnung hatte, die groß genug für dieses Gerümpel war.
    Sie öffnete die Wohnungstür, schloss sie hinter sich ab, schob die vier Riegel vor, die sie nachträglich hatte anbringen lassen, und warf den Schlüsselbund in den Schoß einer Porzellanfigur, die wie Sterntaler ihr Nachthemd ausgebreitet hatte und gen Himmel schaute. Die Tasche ließ sie achtlos unter die Garderobe fallen. Yvonne zog ihre Schuhe aus und tappte ins Wohnzimmer, wo sie die Jalousien so weit herunterließ, bis nur noch ein dämmeriges Zwielicht in die Wohnung fiel.
    Einen kurzen Moment überlegte sie, Florian anzurufen, doch dann entschied sie sich, ihm stattdessen eine SMS zu schicken, dass sie wieder zu Hause sei und es ihr gut ginge. Natürlich würde er ihr das nicht glauben, aber Yvonne hatte keine Lust, am Telefon ihren Gesundheitszustand mit ihm zu diskutieren.
    Sie ging in die Küche, die so aufgeräumt war, dass man sie für einen Möbelkatalog hätte fotografieren können, und nahm ein Glas aus dem Schrank. Das Wasser, das aus dem Hahn lief, war wegen der sommerlichen Hitze lauwarm. Mit Ausnahme des Krankenhausfrühstücks hatte sie heute noch nichts gegessen. Mit dem halb leeren Glas in der Hand stand sie unentschlossen vor dem geöffneten Kühlschrank, der bis auf einige Becher Joghurt und eine abgelaufene Packung Putenbrust in Scheiben leer war.
    Yvonne kippte den Rest des Wassers in den Ausguss, wischte die Spüle mit einem Lappen trocken und stellte das Glas in die Spülmaschine. Dann ging sie ins Bad und schnitt sich die Haare ab.
    Sie hatte nie die Narbe gesehen, die die Kugel hinterlassen hatte. Als sie aus dem Koma erwacht war, waren die Haare bereits zu sehr nachgewachsen. Man konnte zwar die Verdickung und die Unebenheiten im Schädelknochen ertasten, aber von außen waren keine Spuren zu entdecken.
    Strähne für Strähne fiel ins Waschbecken, Stück für Stück arbeitete sie sich zum

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