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Lebenslang

Lebenslang

Titel: Lebenslang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schwindt
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Wohnzimmer herum und wissen nicht, was sie tun sollen.
    Es klingelt erneut. Diesmal ist es Oliver. Ohne Monique. Er sieht mich fragend an.
    »Nein, man hat sie noch nicht gefunden«, sage ich und kann meine gereizte Stimmung nicht verbergen.
    »Scheiße«, sagt er nur.
    Ich wende mich an Wieland. »Sag mal, kannst du dich um deine Schwester kümmern? Sie hat sich oben im Schlafzimmer eingeschlossen und öffnet niemandem, noch nicht einmal mir. Vielleicht hast du ja mehr Glück.«
    »Natürlich«, sagt er, stellt seine halb volle Tasse ab und geht an mir vorbei.
    Ich will die Haustür gerade schließen, als ich sehe, dass ein älterer Mann mit weißem Bart und runder Brille durch die Absperrung gelassen wird. Seine Bewegungen sind sportlich, fast jugendlich. Als er mich sieht, kommt er geradewegs auf mich zu und streckt seine Hand aus.
    »Herr Steilberg?«
    Ich nicke.
    »Mein Name ist Bertram.« Sein Händedruck ist fest, aber nicht forsch.
    »Sie sind der Mann, der sich um uns kümmern soll«, stelle ich fest.
    »Ich bin der Mann, mit dem Sie sprechen können, wenn Ihnen danach ist«, korrigiert er mich.
    »Okay«, sage ich und trete beiseite, um ihn hereinzulassen. Mittlerweile ist es im Haus so voll wie am gestrigen Abend. Irgendwie fühle ich mich dazu verpflichtet, mich um all diese Menschen zu kümmern, als wäre dies eine Party und ich ein schlechter Gastgeber. Meine Mutter ist in der Küche verschwunden. Meinen Vater kennt Oliver schon lange, denn wir beide sind zusammen in dieselbe Schule gegangen, haben dieselbe Klasse besucht, uns über dieselben Lehrer aufgeregt. Oliver ist über viele Jahre hinweg Gast an unserem Mittagstisch gewesen. Er gehörte damals zur Familie, und irgendwie tut er das immer noch.
    Vater traut sich nicht, mich auf die Sache anzusprechen, und ehrlich gesagt, habe ich auch keine Lust, mit ihm über Julias Verschwinden zu reden. Die Zeiten, in denen er mich hatte trösten können, sind lange vorbei. Jetzt sind wir beide in einem Alter, in dem sich die Rollen langsam verkehren. Manchmal sucht er Rat bei mir, fragt mich um meine Meinung, wenn er sich einer Sache nicht sicher ist. Die Geschichte mit seinem Herzen hat ihm und mir endgültig gezeigt, dass er nicht unsterblich ist.
    Manche werden in fortschreitendem Alter entspannter, gelassener. Eigentlich. Nicht mein Vater. Er hat es schon lange aufgegeben, die Welt um sich herum zu verstehen. Und dass Julia verschwunden ist, trifft ihn zutiefst.
    »Wo sind denn die Bilder der Kleinen?«, fragt meine Mutter und deutet auf die lückenhafte Familiengalerie. Dort, wo Julias Fotos hängen, stehen nur einige dünne Nägel vor.
    »Die Polizei hat sie mitgenommen.«
    Sie holt tief Luft und schüttelt mürrisch den Kopf. Von meinen beiden Eltern war sie immer die Stärkere. Ich bin froh, dass sie da ist.
    Die Schlafzimmertür geht auf und wird geschlossen. Schritte kommen die Treppe hinunter. Astrid hat sich angezogen. Sie trägt zu einem grauen Kostüm eine weiße Bluse. Das Haar ist frisiert, und sie ist dezent geschminkt. Kein Schmuck und auch kein Ring, wie ich feststelle. Sie sieht aus, als hätte sie einen geschäftlichen Termin. Alle sehen zu ihr herüber. Mein Vater nimmt sie in den Arm, meine Mutter ergreift ihre Hand. Astrids Gesichtsausdruck verändert sich nicht.
    »Was hast du vor?«, frage ich.
    »Mit der Presse sprechen.« Erst jetzt fällt mir auf, dass sie in ihrer rechten Hand einen zusammengerollten Zettel hält.
    Ich sehe zu Bertram hinüber, der die ganze Zeit fast wie ein Möbelstück unsichtbar bei der Couch gestanden hat. Er fängt meinen Blick auf und kommt zu uns herüber. Ich frage mich, wie er sich fühlt. Eigentlich ist er eine vollkommen unbeteiligte Person. Er kennt uns nicht, und wir kennen ihn nicht. Und trotzdem soll er uns eine Stütze sein. Ob er sie auch wirklich ist, kann er jetzt unter Beweis stellen. Er scheint die Situation mit einem Blick zu erfassen.
    »Darf ich einen Vorschlag machen, Frau Steilberg?«, sagt er vorsichtig. »Sprechen Sie bitte erst mit jemandem von der Polizei darüber. Gibt es da einen Ansprechpartner?«
    »Frank Schumacher«, sage ich.
    Bertram schaut meine Frau fragend an. Sie zögert einen Augenblick, dann nickt sie.
    »Ich gehe raus und suche ihn«, sagt er. Ich bin froh, dass ich nicht vor die Tür treten muss.
    »Warum tust du dir das an?«, will ich von Astrid wissen.
    »Ich finde, wenn es um das Leben unserer Tochter geht, sollten wir alle bereit sein, ein Opfer zu bringen.«

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