Lebenslang
aufgefallen, dass ihr Äußeres ein wenig vom normalen Schema abwich. »Nein, das kann ich Ihnen nicht sagen«, sagte er auf einmal zugeknöpft. »Warum wollen Sie das denn alles so genau wissen? Sind Sie von der Zeitung? Oder vom Fernsehen? Von dem Pack haben wir damals genug gehabt.«
»Nein, wir sind nicht von der Presse«, sagte Thomas. »Wir haben ein persönliches Interesse an der Geschichte, mehr nicht.«
»Ein persönliches Interesse? Was Sie nicht sagen.«
Yvonne spürte, wie das Misstrauen des Mannes wuchs. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Wenn Sie wirklich mehr erfahren wollen, dann fahren Sie doch zur Polizeidirektion in Hanau. Die werden Ihnen alles erzählen können.«
»Dann bedanken wir uns für Ihre Hilfe«, sagte Thomas, noch immer die Freundlichkeit in Person.
Der alte Mann brummelte etwas und schaltete wieder seinen Häcksler ein.
»Wenigstens wissen wir jetzt den Namen des Mädchens«, sagte Thomas, als sie zurück zum Auto gingen.
»Vielleicht wohnen die Steilbergs noch in Steinheim«, sagte sie. »Der Ort ist nicht allzu groß. Wir sollten ein wenig durch die Straßen fahren. Mit ein wenig Glück erkenne ich das Haus vielleicht wieder.«
»Wieso solltest du wissen, wo die Steilbergs vor 20 Jahren gewohnt haben?«, fragte Thomas ein wenig erstaunt.
»Weil ich glaube, dass ich damals mitgeholfen habe, das Mädchen zu finden.«
Steinheim war ein ziemlich bürgerlicher Stadtteil Hanaus, der zum größten Teil aus Einfamilienhäusern bestand, die in den Siebziger- und Achtzigerjahren gebaut worden waren. Es war ein Idyll mit gepflegten Vorgärten, alten Bäumen und Grundstücken, von denen manche so groß waren, dass man auf ihnen heute größere Mehrfamilienhäuser errichtet hätte. Nur wenige Kinder spielten auf den Straßen. Das mochte daran liegen, dass Sommerferien waren. Yvonne vermutete aber, dass die Kinder der Familien, die vor dreißig Jahren hier gebaut hatten, längst ausgezogen waren und woanders selbst Familien gegründet hatten.
Steinheim hatte einen schönen, weitgehend unversehrten Altstadtkern mit einem alten Schloss und einem noch älteren Wehrturm, der sich weiß und mit kleinen Türmchen verziert hoch in den Himmel erhob. Die zinnenbewehrte Kirche, die die Altstadt dominierte, musste an die sechshundert Jahre alt sein. Ein Stück heile Welt, in dem man gerne seine Kinder großzog.
Sie bogen in die Darmstädter Straße, die sie bis zum Wasserturm hinauffuhren, um dann in eine der Seitenstraßen rechts abzubiegen.
Yvonne schüttelte immer wieder den Kopf und gab die Richtung vor, in die Thomas fahren sollte. Sie war sich nun sicher, hier schon einmal gewesen zu sein, aber wie im Wald war es nur ein vages Gefühl des Wiedererkennens. Nach einer Viertelstunde, als sie durch das Gewirr der engen Wohnstraßen gefahren waren und schon beinahe aufgeben wollten, sah Yvonne das Haus.
»Stopp!«, rief sie. »Hier ist es.«
Thomas parkte den Wagen am Straßenrand, und sie gingen in die kleine Stichstraße hinein, in der die Doppelhaushälfte stand. Ein kleiner Roller lag achtlos an eine Hecke gelehnt. Jemand hatte mit bunter Kreide Häuser, Wege und Parkplätze auf den Asphalt gezeichnet. In der Einfahrt des Carports, in dem ein silberner Kombi stand, war eine Decke ausgebreitet worden, auf der eine Puppe darauf wartete, gewickelt zu werden. Es roch nach Lavendel und Rosen. Yvonne hakte sich bei Thomas ein, denn ihre Glieder begannen zu zittern. Im Vorgarten wuchsen zwei Tujen, deren Spitzen bis zur Dachrinne hinaufragten. Damals waren sie so klein gewesen, dass sie Yvonne nur bis zur Hüfte gereicht hatten. Auf der Briefkastenklappe klebte ein Schild mit dem Namen der Familie, die jetzt hier wohnte.
Yvonne bemerkte Thomas’ sorgenvollen Blick.
»Mir geht es gut«, versicherte sie ihm.
»Möchtest du klingeln?«
»Ich glaube, deswegen sind wir hier, nicht wahr?« Sie streckte die Hand aus und drückte den kleinen Knopf, der neben der Tür in die Wand eingelassen war. Dann trat sie einen Schritt zurück.
Sie hörten, wie im Inneren eine Tür geöffnet wurde und sich kleine Schritte näherten. Die Haustür wurde geöffnet, und Yvonne blickte in das Gesicht eines siebenjährigen Mädchens mit langen blonden Haaren. Obwohl das Kind keine Ähnlichkeit mit Julia hatte, verspürte Yvonne einen scharfen Stich in ihrer Brust.
»Ja?«, fragte das Mädchen und strahlte Yvonne mit einem zahnlückenbewehrten Lächeln an.
»Hallo. Ist dein Papa oder deine Mama da?«
Das Mädchen
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