Lebenslang
nickte und lief ins Haus zurück. Ein Mann erschien, stämmig, mit kurzen Haaren und einer altmodischen Brille.
»Entschuldigen Sie, wenn ich Sie störe, Herr …«, sie warf einen Blick auf das Namensschild, »… Schwindt.Aber ich würde Ihnen gerne einige Fragen stellen.«
»Um was geht es denn?«, wollte der Mann wissen.
»Es hat nichts mit Ihnen zu tun«, beeilte sich Yvonne zu sagen.
»Und wir wollen Ihnen auch nichts verkaufen, keine Angst«, sagte Thomas. »Es geht um eine Familie, die vor Ihnen in diesem Haus gewohnt hat.«
»Fragen Sie.«
»Könnten wir das vielleicht bei Ihnen drinnen besprechen«, fragte Yvonne.
Schwindt musterte sie. »Okay. Kommen Sie herein.«
»Besten Dank«, sagte Yvonne.
Sie betraten einen Flur, der so klein war, dass man sich nicht zu zweit umdrehen konnte. Ein halbes Dutzend Paar Schuhe lagen auf dem Boden verstreut, an der Garderobe hingen so viele Jacken, dass man Angst haben musste, dass sie irgendwann durch das Gewicht aus der Wand gerissen würde. Yvonne stellte erleichtert fest, dass der Geruch der Wohnung sich verändert hatte.
Durch den Flur hindurch gelangte man in ein Esszimmer, das in ein großes Wohnzimmer überging. Von innen wirkte das Haus großzügiger als von außen. Es war gemütlich hier. Überall hingen Kinderzeichnungen. Im Esszimmer stand ein alter, abgebeizter Küchenschrank. Das Wohnzimmer hatte ein riesiges Bücherregal. Wie ein Schiff, das gehoben wurde, kehrten Yvonnes Erinnerungen Stück für Stück zurück.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte Schwindt. »Sie sehen aus, als müssten Sie sich erst einmal setzen. Darf ich Ihnen einen Kaffee machen?«
»Das wäre sehr nett von Ihnen«, sagte Thomas und führte Yvonne zu einem Stuhl.
»Papa, was hat die Frau?«, fragte das Mädchen flüsternd ihren Vater.
»Ich habe keine Ahnung, aber ich glaube, das werden wir gleich erfahren. Hier. Du kannst schon einmal den Zucker und die Milch auf den Tisch stellen.«
Das Mädchen lächelte schüchtern, als sie die Sachen zusammen mit zwei Kaffeelöffeln zum großen Tisch trug. Yvonne lächelte zurück. Sie mochte dieses Mädchen auf Anhieb. Es hatte einen offenen Blick und wache Augen. Das Mahlwerk einer Kaffeemaschine sprang an, und Milch wurde aufgeschäumt. Dann brachte der Mann zwei große Tassen Milchkaffee und setzte sich zu den beiden an den Tisch. Das Mädchen leistete ihnen Gesellschaft. Es hatte sich einen Fruchtzwerg aus dem Kühlschrank geholt, den es jetzt mit einem kleinen Löffel aß.
»Also, was kann ich für Sie tun?«, fragte Schwindt.
Yvonne rührte ihren Kaffee um und trank einen Schluck. »Darf ich fragen, wie lange Sie schon in diesem Haus wohnen?«
»Fünf Jahre.«
»Sagt Ihnen der Name Steilberg etwas?«
Der Mann sah jetzt seine Tochter an. »Sophie, mein Schatz. Lässt du uns bitte für einen Moment alleine?«
Das Mädchen verzog das Gesicht. Es war neugierig und wollte hören, warum der Mann und die Frau gekommen waren.
»Bitte, tu mir den Gefallen.«
Sophie seufzte, nahm ihren Fruchtzwerg und ging hinaus auf die Terrasse.
»Und mach bitte die Tür hinter dir zu.«
Das Mädchen stöhnte laut auf, tat aber, was der Vater ihr sagte.
»Natürlich sagt mir der Name Steilberg etwas«, sagte Schwindt, als die Tür lautstark zugezogen worden war. »Die Familie war einer unserer Vormieter.«
»Können Sie uns sagen, was damals hier geschehen ist?«, fragte Thomas.
»Ich weiß auch nur das, was mir die Nachbarn gesagt haben und was im Internet steht. Es war vor ziemlich genau zwanzig Jahren, im Sommer, dass die Tochter der Familie ermordet wurde. Man hat ihre Leiche wenige Tage später draußen am Grünen See gefunden. Nach allem, was ich gehört habe, war es kein besonders schöner Anblick.«
»Hat man herausgefunden, wer es war?«, fragte Thomas.
»Die Polizei hatte den Bruder der Mutter relativ schnell im Verdacht. So, und jetzt sagen Sie mir bitte, warum Sie das alles wissen wollen.«
»Ich glaube, dass ich damals mit dabei war«, sagte Yvonne.
Schwindt sah sie verwirrt an. »Was meinen Sie damit?«
»Das ist schwierig zu erklären«, sagte Yvonne. »Ich war Polizistin in dieser Zeit, aber meine Erinnerungen sind nicht mehr sehr vollständig, um es einmal so auszudrücken.«
»Sie haben eine Amnesie?«
Yvonne nickte. »So etwas in der Art.«
»Dann seien Sie mir nicht böse, aber ich weiß nicht, wie ich Ihnen dabei helfen könnte, Ihre Erinnerung wieder zurückzuerlangen.« Schwindt klang so, als würde er ihr nicht
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