Lebenslang
etwas Unverständliches. Yvonne stellte die Tasse auf den Tisch, verteilte Teller und Besteck und machte sich ein Marmeladenbrot.
»Wie spät ist es?«, kam es gedämpft unter der Decke hervor.
»Kurz nach neun«, antwortete Yvonne mit vollem Mund.
Mit einem Ruck setzte sich Thomas auf. »Verdammt, ich habe verschlafen.« Er sprang auf, durchsuchte seine Jeans, die achtlos auf dem Boden lag, drückte eine Kurzwahltaste seines Handys und wartete, bis sich jemand meldete.
»Hi«, sagte er. »Tut mir leid, wenn ich erst jetzt anrufe, aber mir ist heute etwas dazwischengekommen.« Jemand antwortete am anderen Ende der Leitung, und Thomas rollte mit den Augen. Er fuhr sich mit der Hand durchs struppige Haar. »Ja, es tut mir auch leid. Ja, das nächste Mal rufe ich früher an. Danke. Du hast was gut bei mir. Bis dann.« Er blies die Backen auf, als wäre er gerade noch einmal davongekommen, und legte das Handy beiseite.
»Alles in Ordnung?«, fragte Yvonne.
Er nickte. »Ich hatte heute Dienst in der Schleuse, das habe ich ganz vergessen. Glücklicherweise ist jemand für mich eingesprungen.«
»Also hast du heute frei.« Yvonne hatte ein seltsames Gefühl, wie bei einem Morgen danach. Nur dass es das Davor nicht gegeben hatte.
»Wenn ich meine Taxischicht auch noch ausfallen lasse. Das würde ich aber ungern tun, da ich auf das Geld angewiesen bin.«
»Ich könnte dich für den ganzen Tag buchen«, sagte sie.
»Ja, das könntest du. Sozusagen.«
Yvonne lächelte. So gut wie heute früh hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt. »Gut. Sehr gut«, sagte sie und deutete auf seine Tasse. »Der Kaffee wird kalt.«
»Hast du etwas Besonderes vor?«
»Nein.«
»Guter Plan«, sagte Thomas und lächelte. Yvonne stützte ihren Kopf auf beide Hände und lächelte zurück.
Er hob fragend die Augenbrauen.
»Nichts«, sagte Yvonne. »Es ist nur … na ja, zum ersten Mal seit langer, langer Zeit sitzt hier ein Mann, und ich habe ihn noch nicht rausgeschmissen.«
»Oha. Spricht das jetzt für mich oder für dich?«
»Ich glaube, das spricht für uns beide.« Sie nahm sich eine zweite Scheibe Brot. »Erzähl mir von dir, ich weiß so gut wie gar nichts über dich.«
»Ich glaube nicht, dass du diese Geschichte hören möchtest.«
»Lass es darauf ankommen.«
»Wo soll ich anfangen?«
Yvonne kratzte den letzten Rest Marmelade aus dem Glas. »Bei deiner ersten Erinnerung.«
»Meine erste Erinnerung ist der Ledergürtel, mit dem mich meine Mutter immer geschlagen hat.« Thomas biss in sein Brot. »Ich weiß noch, er war rot und schmal und hatte eine verzierte Schnalle. Wie bei einem dieser Cowboygürtel, die man früher immer zum Karneval trug.«
Yvonne hielt im Kauen inne.
»Ich warne dich, es ist keine erbauliche Geschichte. Der klassische Fall, wie es ihn auch heute noch überall gibt. Alleinerziehende Mutter, überfordert, wechselnde Bekanntschaften. Deswegen jede Menge Halbbrüder, alle von verschiedenen Vätern. Mehrere Jahre in verschiedenen Heimen verbracht, mit achtzehn geheiratet, weil ich unbedingt eine richtige Familie haben wollte. Mit zwanzig geschieden, kein Kontakt mehr zur Tochter. Alkoholprobleme. Kriminell geworden. Knast. Danach auf der Straße. So war das.« Er nahm ihre und seine Tasse, stand auf und ging in die Küche, um Kaffee nachzufüllen. Dann setzte er sich wieder. »Eigentlich hätte das das Ende der Geschichte sein können. Ich meine, wer solch eine Karriere hinlegt, wird meistens nicht älter als vierzig.«
»Aber es war nicht das Ende deiner Geschichte«, sagte Yvonne.
»Nein, und das habe ich nicht mir zu verdanken, sondern einer Sozialarbeiterin, der es nicht egal war, was aus mir wurde. Sie leitete in Köln eine ähnliche Einrichtung wie die, in der ich auch arbeite. Sie hat mich nicht aufgegeben und an mich geglaubt. Dann wurde sie von zwei Typen umgebracht, die nicht ganz so dankbar wie ich waren. Also habe ich meine Sachen gepackt, die Stadt verlassen und bin nach Frankfurt gegangen, wo ich ganz von vorne angefangen habe. Ich hatte mir vorgenommen, etwas von dem zurückzugeben, was ich von ihr bekommen habe. Klingt vielleicht kitschig, aber diese Schuld hält mich am Leben.«
Er hatte ihr nicht in die Augen geschaut, aber jetzt blickte er auf. »Es gibt noch mehr Menschen, die Ähnliches erlebt haben.« Thomas lachte. »Ich will auf keinen Fall so klingen, als wäre ich Opfer einer Naturgewalt geworden, dass sich das eine unausweichlich aus dem anderen ergeben hat. So
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