Lebenslang
ist das nicht. Ich habe viele Dinge in meinem Leben getan, auf die ich wirklich nicht stolz bin, bis ich gelernt habe, dass man immer die Wahl hat.« Thomas ergriff Yvonnes Hand.
»Hast du noch einmal von dem Mann und dem Mädchen geträumt?«, fragte er.
Yvonne nickte. »Vorletzte Nacht. Ich habe gesehen, wie er sie tötete.« Sie versuchte zwischen sich und der Erinnerung Abstand zu schaffen, doch es gelang ihr nicht. »Diesmal war es anders. Diesmal habe ich den Mord mit seinen Augen gesehen.«
»Hast du auch gefühlt, was er gefühlt hat?«
Yvonne lachte hilflos. »Ich habe in diesem Moment gar nichts gefühlt«, sagte sie.
»Und du bist dir wirklich sicher, dass es mehr war als ein Traum?«
»Oh ja. Es war so real, als wäre ich selber da gewesen.«
»Vielleicht warst du es ja auch«, sagte er.
»Wie meinst du das?«
»Du hast selber gesagt, dass die Erinnerung an dein Leben vor der Kugel unvollständig und bruchstückhaft ist. Vielleicht drängt nun etwas in dein Bewusstsein, das lange verschüttet war. Ausgelöst durch die Begegnung mit dem Mann in der Notfallaufnahme. Gehen wir einmal davon aus, dass du wirklich eine Vision hattest und das Mädchen tatsächlich erst vor einigen Tagen ermordet wurde. Warum stand dann nichts in der Zeitung? Warum haben die Nachrichten nichts gebracht?«
»Vielleicht, weil man das Mädchen noch nicht gefunden hat?«, fragte Yvonne.
»Dann hätte man die Kleine doch mindestens als vermisst gemeldet.«
Es war, als hob sich in diesem Moment ein Vorhang. Thomas hatte recht, natürlich. Aber Yvonne war so sehr mit sich beschäftigt gewesen, dass sie auf niemanden gehört hatte. Weder auf ihren Sohn noch auf ihren Arzt. Seit sie diese Kugel im Kopf hatte, war sie sich sicher gewesen, dass alle Erinnerungen, die sie verloren hatte, tatsächlich permanent ausgelöscht worden waren. In all den Jahren war noch nie etwas, was dem Vergessen anheimgefallen war, wieder zurückgekehrt.
»Hast du einen Rechner?«, fragte Thomas.
»Nein, ich habe mir keinen gekauft, weil man mich davor gewarnt hat, an einem Monitor zu arbeiten.« Es war nur die halbe Wahrheit. Ein weiterer Grund, der für sie viel wichtiger war, lag in ihrem Desinteresse an der Welt um sie herum.
»Vielleicht sollten wir zu mir fahren«, sagte Thomas und stand auf. »Ich habe einen Internetanschluss.«
Yvonne umfasste ihren Kopf mit beiden Händen und kniff die Augen zusammen. Da gab es noch etwas. Etwas Wichtiges, das sie übersehen hatte. Der Traum, den sie gehabt hatte, war zwar real wie eine Erinnerung gewesen, aber trotzdem hatte sie etwas daran irritiert. Dann wusste sie es.
»Ich glaube nicht, dass ich die Tat wirklich aus der Sicht des Mörders erlebt habe«, sagte sie. »Dazu war die Empfindung zu ungenau. Nur das Bild der Leiche, des toten Mädchens, war scharf wie eine Fotografie.«
»So als hättest du dir aus dem, was du damals herausgefunden hattest, ein eigenes Bild des Ablaufs gemacht.«
Yvonne ließ ihren Kopf wieder los. »Ja, vielleicht. Und da war noch etwas.« Sie schloss die Augen, lauschte in sich hinein und versuchte, sich noch einmal alles ins Gedächtnis zu rufen. »In der Nähe des Tatortes befinden sich eine Hundeschule und ein Schießplatz der Polizei«, sagte sie.
Und plötzlich wusste sie, wo sie suchen musste.
»Die Hundeschule der Polizei befindet sich auf halbem Weg zwischen Mühlheim und Steinheim, südlich der Bundesstraße 43, ein Stück in den Wald hinein«, sagte Yvonne und zeigte auf das Display des Navigationsgerätes, das am Armaturenbrett des Mercedes angebracht war. »Und da ist auch der See.«
Sie fuhren auf der Hanauer Straße Richtung Osten. Links von ihnen floss träge der Main vorbei, an dessen Nordufer Schloss Philippsruhe die Bäume eines Parks überragte. Flugzeuge schwenkten auf den Landeanflug zum Airport ein.
Hinter Dietesheim verließ Thomas die Bundesstraße und bog in die Pfaffenbrunnenstraße ein, bis sie auf der linken Seite eine Schrebergartenanlage sahen.
»Da hinten ist es«, sagte Yvonne und deutete auf ein weißes Gebäude, dessen Zaunkrone mit Stacheldraht gesichert war. Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, befanden sich die Hundeübungsplätze.
Thomas stellte den Wagen im Schatten ab, und sie stiegen aus. Ein Jogger keuchte an ihnen vorbei. Aus den Gärten hörten sie das Schreddern eines Häckslers. Die Zwinger, in denen die Polizeihunde untergebracht waren, standen leer. Yvonne ging zur Pforte und klingelte mehrmals, aber die
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